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[IX/X]

so groß nötig. Diese Schulen werden ihre Sprüchlein bald ausgestammelt haben. Der Geist

der Zeit hat sich, wenn nicht alles trügt, gewendet, er kehrt sich von der öden

Tatsachenjägerei ab, er fordert von jeder geistigen Wissenschaft auch eine geistige Weise,

eine Weise und einen Weg, der auf den Gehalt selbst geht, nicht aber im Äußerlichen

steckenbleibt.

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Nötiger dagegen ist es, den Freunden dieses wahrhaften Verfahrens ein ernstes Wort zu

sagen. Wer einen nicht-naturwissenschaftlichen Weg in den Gesellschaftswissenschaften

sucht, darf nicht in bloßen Formalismus verfallen, wie dies die neukantischen Schulen der

Gegenwart einschließlich der phänomenologischen tun; er muß den Mut haben, die

Folgerungen aus der Abkehr von jenem äußerlichen Wege zu ziehen. Gewiß muß die

Wissenschaft, die nach dem nicht-naturwissenschaftlichen Verfahren entsteht, eine ebenso

große S t r e n g e wie die naturwissenschaftlichen Fächer aufbringen — aber ist darum

dieses Ziel auch in gleicher W e i s e wie bei den Naturwissenschaften erreichbar? Das ist

unmöglich. Man darf nicht in den Fehler verfallen, durch leeren Formalismus selbst wieder

eine Äußerlichkeit eigener Ordnung zu schaffen. Man darf die Kategorien des

Unmechanischen nicht wieder mechanisch, das Sinnvolle nicht wieder ohne Sinn, das Innere

nicht äußerlich haben wollen. Der Mensch scheut und sehnt sich zugleich aus seinem

gewöhnlichen Selbst und seinem Geleise herauszutreten. Aber diese Scheu muß überwunden

werden, soll das Innere ans Licht kommen. Wir dürfen in den Geisteswissenschaften vor

jenem Begriffe der Innerlichkeit nicht zurückschrecken, den der Sachgehalt erfordert, und

müssen uns wieder mehr dem mittelalterlichen Begriff der Wissenschaft nähern, den Notker

der Deutsche vor fast tausend Jahren dahin aussprach: „Sie ist aber verborgen im Geheimen,

wie alle Wissenschaft, das heißt im innern Herzen.“

1

Hiermit wird die Wissenschaft noch

nichts „Subjektives“, wie unser naturwissenschaftlich beschiedenes Zeitalter wähnt, aber es

werden freilich höhere Anforderungen an den Forscher und Menschen gestellt als beim

Wägen und Messen, bei den „Hebeln und Schrauben“, auf die das ursächliche Verfahren

angewiesen ist. Im nicht-naturwissenschaftlichen Verfahren kann ohne eine gewisse

Erfassung von Sinn und Ganzheit nichts ausgerichtet werden. Diese Erfassung ist gleicher

Strenge fähig wie die naturwissenschaftliche Messung, weil die Wirklichkeit mit dem Begriff

übereinstimmen muß; aber gleich äußerlicher Kategorien wie jene Messung ist sie darum

nicht ebenfalls fähig, sondern sie hat die ihr arteigenen Kategorien. Wie nur dort echte

Ganzheit ist, wo das Ganze in jedem einzelnen Teile wohnt und lebt, so auch nur dort das

rechte gesellschaftswissenschaftliche Verfahren, wo das Wissen aus dem Brennpunkt der

Ganzheit, aus dem über den Teilen stehenden Zusammenhange heraus auf das Einzelne Licht

verbreitet.

W i e n , im August 1922

Othmar Spann

1

Angeführt bei Paul Theodor Hoffmann: Der mittelalterliche Mensch, Gotha 1922, S.

177.