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313

C.

Die a r i s t o t e l i s c h - s c h o l a s t i s c h e A u f f a s s u n g

Bei Platon, Aristoteles, den Neuplatonikern und den Scholasti-

kern findet sich jene Auffassung des Stoffes,

ϋλη),

materia, die man

grundsätzlich als das bloße Erleiden des Erfülltwerdens mit der

Form, als bloße Möglichkeit der Aufnahme von Formen bezeichnen

kann

1

.

Aristoteles entwickelte die Lehre von dem zweifachen Sein, dem Sein der

Möglichkeit nach

(

δυνάμει

)

und der Wirklichkeit nach

(

ένεργείμ

)

. Diesem Lehr-

stücke zufolge besteht nichts aus reiner Wirklichkeit, sondern jede Wirklichkeit

der sinnfälligen Welt ist noch mit Möglichkeit gemischt. Das was aber jeweils

wirklich wird, ist die Form

(

μορφή, είδος

,

forma), dasjenige, was sich als Wesens-

gehalt eines Dinges (das

τό τί ήν είναι

) herausbildet und herausstellt. — Ver-

folgt man diesen Begriff der Möglichkeit gegenüber der den Wesensgehalt ge-

benden „Form“ weiter, so kommt man zuletzt zu dem Begriffe der reinen Mög-

lichkeit (als erleidender) und / eben diese ist nach Aristoteles die Materie

(ϋλη.

Sein Gedanke ist, daß im Wechsel der Formen etwas Beharrendes zugrunde lie-

gen müsse, das weder vergeht noch entsteht. „Holz“ verbrennt, das heißt, die

Form Holz vergeht und wird zur Form „Feuer“; diese vergeht und wird zur

Form „Asche“, „Wasser“ verdunstet, es wird zu „Luft“ usw. — Indem die For-

men wechseln und ihnen etwas Beharrendes, a n dem sie erscheinen, zugrunde

liegen muß (ein

ύποχείμενον

,

zugrunde Liegendes, ein Substrat), gelangen wir

zuletzt zu dem, was nichts anderes ist, als die Möglichkeit, alle Formen aufzu-

nehmen. Dieses Letzte selbst kommt daher niemals selber zum Vorschein. Es ist

ein ,

μή όν,

ein von sich aus Nichtseiendes. Die Materie ist daher nicht Sub-

stanz, sondern Möglichkeit aller Substanz, daher auch kein Akzidens, sondern

das von sich aus schlechthin Unbestimmte, unbestimmtes Substrat (bei Pla-

ton:

άπειρον

),

das erste Substrat, erste Subjekt (Unterlage

2

), der erste Stoff,

materia prima,

πρώτη

ϋ

λη

).

Die erste Materie hat keine Form, sie ist nur das

Formbare, wie Wachs vom Siegel geformt werden kann. Jedes Naturding ist

schon „zweite Materie“, das heißt stoffliches Ding (compositum,

σύνολον

)

das

bereits aus Form und erstem Stoffe gemischt ist.

Die Verschiedenheit der Naturwesen ist in der Aristotelischen

Naturphilosophie mit höchster Lebendigkeit erklärt. Sie folgt aus

der Verschiedenheit der Formenwelt, welche die wesengebende

Wirklichkeit (Energie) und zugleich der Zweck (die Vollendung,

Entelechie) der Dinge ist. Diese Naturauffassung begründete schon

1

Vgl. zur Ergänzung des Folgenden oben S. 167 ff. (Gezweiung höherer Ord-

nung), 110 ff. (Substanzbegriff) und unten Sechstes Buch, Ideenlehre. — Verwandt

Schelling und Hegel, siehe oben S. 170.

2

Aristoteles: Acht Bücher, Physik, griechisch und deutsch von Karl von Prantl,

Leipzig 1854, I, 9:

λέ

ωγ γάρ νλην τό πρώτον ύποχείμενον εχάοτφ, ές ού γίνεται τι

ένυπάρχοντος μή χατά ουμβεβηχός.