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der A u f g e h o b e n h e i t in Gott, E r g e b u n g in Gott. Inneres G o t t -

v e r t r a u e n ist das Zeichen einer mystischen Wurzel der Religiosität. Im

Glauben an ein unabänderliches F a t u m hingegen, das heißt an V o r -

a u s b e s t i m m t h e i t und gnadenloses, unentrinnbares S c h i c k s a l ,

geboren aus dem „Neid der Götter“ zeigen sich gewisse Entstellungen und

Entartungen. Sie müssen sämtlich auf eine Schwächung der mystischen Er-

lebnisgrundlage zurückgeführt werden. Der furchtbare griechische Schick-

salsbegriff deutet auf einen Einbruch der Aufklärung in die mystische Re-

ligiosität.

6.

Eine notwendige Folgerung aus der mystischen Erfahrung ist die L i e b e ,

welche das gesamte s i t t l i c h e L e b e n und einen Teil der Opfersitten

konkretisieren. Als G o t t e s l i e b e , M e n s c h e n l i e b e , G e s c h ö p -

f e s - u n d N a t ü r l i c h e kennt sie jede echte Mystik. Wo bloßes M i t -

l e i d oder eine starre g e s e t z l i c h e G e r e c h t i g k e i t — „Aug um

Aug, Zahn um Zahn" — herrscht, hat die mystische Grundlage der Religion

gelitten.

Die Entstellung der Geschöpfesliebe kann bis zum T i e r d i e n s t

(Totemismus) und F e t i s c h d i e n s t (Anbetung toter Gegenstände)

führen.

Die Liebe ist keinesfalls naturalistisch, nämlich durch „Sympathie-

gefühle“, „Triebe“ ausreichend begründbar. Sie hat primär mystische Wur-

zeln und von ihr geht konkret die B e g r ü n d u n g d e r S i t t l i c h -

k e i t aus. Max Müller sagte einmal: „Es gibt keine Religion, oder wenn

es eine gibt, kenn ich sie nicht, die nicht sagt: ,Tue, was gut ist, meide, was

böse ist“

1

. Und woher dieser Imperativ abgeleitet ist, aus der mystischen

Gottesliebe, lehrt uns klar das Evangelium: „Du sollst den Herrn, deinen

Gott lieben . ..“ und „du sollst deinen Nächsten lieben ..— Menschen-

liebe hat ihre letzte Quelle in der Liebe um Gottes willen. Diese wieder in

der mystischen Einheitserfahrung.

Wie von diesen verschiedenen Kategorien aus die Begründung der Sitt-

lichkeit durch die Mystik erfolgt, wurde oben angedeutet.

Die soeben überblickten Konkretisierungen, welche die Mystik

dem Verhältnis des Menschen zu Gott verleiht, lassen sieb noch /

in einem anderen Licht betrachten, indem wir nämlich nicht die

einzelnen Seiten mystischer Erfahrung, sondern ganz allgemein das

Verhältnis des Menschen zu Gott, des Menschen zum Menschen,

des Menschen zur Natur ins Auge fassen:

Dann ergibt sich folgende Gruppierung:

(a)

Im mystischen Verhältnis des Menschen zu Gott: Gottesbewußtsein, Gott-

durchdrungenheitsbewußtsein oder Ergebung in Gott, Gottesliebe, hieraus

Gottesverehrung;

(b)im Verhältnis des Menschen zu sich selbst: Unsterblichkeitsbewußtsein;

2

1

Friedrich Max Müller: Theosophie, deutsch von Moritz Winternitz, Leipzig

1895.

2

Mattheus: 22, 37 ff.; Markus 12, 28 f.