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Erscheinung sagte zu dem Kinde: „Trinke aus jener Quelle, wasche dich mit dem
Wasser und iß von dem Kraute, das dort wächst.“ Bernadette blickte umher und
vermochte kein Wasser zu sehen. Es war hier nie eine Quelle gewesen. Sie
wandte sich daher dem Gaveflusse zu. . . „Nicht dorthin“, sagte die Erscheinung,
„nicht aus dem Flusse sollst du trinken, sondern aus dieser Quelle hier“ —
dabei deutete sie mit der Hand in die trockene Ecke der Grotte . . ., wo Berna-
dette nicht aufrecht stehen, sondern nur auf den Knien hinkriechen konnte . . .
Aber von einer Quelle sah Bernadette noch immer nichts. Sie lockerte mit
ihren Händen den Boden und scharrte die Erde weg. Auf einmal .. . quoll
Wasser hervor, vermischte sich mit der von Bernadette zerbröckelten Erde und
bildete eine Art von Schlamm, Bernadette kostete davon und aß auch einige
Blätter von dem Kraute .. . Die Erscheinung verschwand und Bernadette kehrte
aus ihrer Ekstase in ihren gewöhnlichen Zustand zurück — unzählige Menschen
waren zugegen und nahmen den Vorgang mit Staunen wahr. Man stürzte auf
die Grotte zu, trank und tauchte Tücher in die Wassergrube ...“ Bald erweiterte
sich der Strahl so, daß über 100.000 Liter täglich hervorquollen.
Es folgten darauf die wunderbarsten Heilungen. Dadurch entstand ein welt-
berühmter Wallfahrtsort, der jährlich von Hunderttausenden von Pilgern besucht
wird. — Das Übersubjektive dieser Vision liegt mindestens in der Spürung der
Heilkraft des allerdings noch verborgenen Wassers durch das ekstatische Mädchen.
Der Eindruck der Ekstase auf die Zuschauer war groß: „Man sah ... das Antlitz
der kleinen Seherin von den Strahlen eines himmlischen Lichtes übergossen. Das
Blut stieg ihr keineswegs in den Kopf; es überzog ihr Antlitz vielmehr eine
leichte Blässe, ihre Züge aber verklärten sich wundersam und nahmen einen
überirdischen Ausdruck an. Der halbgeöffnete Mund stammelte Entzücken und
Bewunderung; die unbeweglichen, in den nur für sie sichtbaren Gegenstand
versenkten Augen strahlten vor Wonne“
1
.
Visionen treten aber nicht nur als solche, sondern auch in objekti-
vierten Formen auf, von denen wir einige besonders hervorheben.
2.
Genius, Schutzgeist, spiritus familiares, di penates, Laren,
Hausgötter, Staatspenaten
Bei manchen Menschen zeigt sich mehr oder weniger deutlich
und beständig die Vision eines Genius, Schutzgeistes oder Schutz-
engels, der wohl als ein Sinnbild des eigenen selbfremden Seins, des
transzendenten Ichs zu betrachten ist. Dieser Schutzgeist verkehrt
dann mit ihnen, er verschwindet oder wendet sich ab, wenn der
Mensch Böses tut, wie es nicht nur aus uralten Zeiten, sondern
auch oft in neueren Zeiten, zum Beispiel von der Katharina /
Emerich von Dülmen berichtet wird
2
. Das Subjektive ist hier
das Bild, das Objektive die Realität des eigensten Ichs oder Selbstes
1
Georg Friedrich Daumer: Das Wunder, Regensburg 1874, S. 60 f.
2
Vgl. Clemens Brentano: Religiöse Schriften, Bd 1, München 1912—13,
S. 113 ff.