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(2)

der Mensch in seiner Geistigkeit nur als Glied eines Gesamt-

geistes der Gesellschaft aufgefaßt werden dürfe, z. B. in seiner reli-

giösen Geistigkeit als Glied eines religiösen Gesamtgeistes (wobei

die individuelle Selbständigkeit natürlich unangetastet bleibt). Das

heißt aber: daß der Mensch, als geistiges Wesen betrachtet, nur in

Gegenseitigkeit oder G e z w e i u n g bestehen könne; daß endlich

(3) die Gemeinschaft und ihre Gebilde, z. B. Staat und Kirche,

nicht aus dem Nutzen abgeleitet werden dürfen, sondern in sich

selbst einen ursprünglichen geistigen Gehalt haben, an dem der

Einzelne teilhat.

Auch hier muß ich, um nicht zu weitläufig zu werden und um

mich nicht zu wiederholen, auf meine früheren Schriften verweisen,

in denen ich den grundlegenden Begriff der Gezweiung (Gemein-

schaft) oder der gegenseitigen geistigen Auferweckung als der Le-

bensform des Einzelnen nach allen Seiten hin näher erklärte und

begründete. Hier hebe ich nur die verfahrenkundlichen Folgerungen

hervor. Die wesentlichste Folgerung ist der Begriff der Gliedhaftig-

keit des Einzelnen und der — ideell vor dem Einzelnen vorhan-

denen — Ganzheit. Da das Ganze vor dem Teile ist, so ergeben sich

die folgenden Vorrangsätze: geistige Gemeinschaft ist vor Einzelnem,

Staat ist vor Einzelnem, Kirche ist vor Einzelnem, Volkstum ist

vor Einzelnem, Familie ist vor Einzelnem — kurz, die menschliche

Gemeinschaft als Ganzes und alle ihre Gebilde oder Unterganzheiten

sind vor dem Einzelnen. — Am deutlichsten zeigt sich dieses Ver-

hältnis bei der Kirche. Es ist nicht der Wille aller Einzelnen, welcher

die religiöse Gemeinde bestimmen dürfte, wie z. B. nach naturrecht-

licher Auffassung (ich spreche hier vom individualistischen Natur-

rechte der Neuzeit, nicht vom alten Naturrechte)

1

sich der Staats-

wille aus der Summierung der subjektivenWillenserklärung (angeb-

lich) ableiten soll. — Dem steht der christliche Begriff der Kirche als

Corpus Christi mysticum entgegen. Nach ihm ist es eine höhere

Realität, die die religiöse Gemeinde, die Kirche, bestimmt, mit Leben

und Inhalt erfüllt. Durch Gliedhaftigkeit oder Teilnahme erlangt

der Einzelne religiöse Geistigkeit, religiöse Wirklichkeit.

1

Vgl. zur Unterscheidung beider mein Buch: Die Haupttheorien der Volks-

wirtschaftslehre (1911), 23. Aufl., Jena 1933, S. 26 f. [28. Aufl., Graz 1969,

S. 37 f.].