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Unvollkommenheit als F e h l a u s g l i e d e r u n g u n d F e h l -

u m g l i e d e r u n g d a r . Von den reinen Verwirklichungen oder

vollkommenen Weisen wird begriffsmäßig bei jeder einzelnen Weise

(Kategorie) zu reden sein. Was einer allgemeinen Betrachtung be-

darf, sind die kategorialen Gestalten der Unvollkommenheit oder

Fehlumgliederung.

Daß sich nach der Weise der Unvollkommenheit der G e g e n -

s a t z v o n S e i n u n d S o l l e n ergibt, darum alles Sein seinem

B e g r i f f e nach reine Wesensverwirklichung, seiner Tat nach

nicht reine Wesensverwirklichung ist, das heißt aber, a l l e s S e i n

g e s o l l t e s S e i n ist, folgt unmittelbar aus dem Begriffe der

Vollkommenheit (auch haben wir es an anderen Orten wiederholt

dargelegt

1

). Gibt es auch g e s o l l t e G e s c h i c h t e “ ? Daß es

diese gibt, darüber kann niemand hinwegkommen, der erkannt hat,

daß Geschichte Geist ist und daß alles geistige Sein ein Wesen seinem

Begriffe nach rein zu verwirklichen hat, also seinem Begriffe nach

vollkommenes, also (da in der Wirklichkeit nie ganz erreicht) „ge-

solltes Sein" ist.

Vom reinen Wesen des Gegenstandes oder vom „Sollen" zu han-

deln ist Aufgabe aller systematischen Gesellschaftswissenschaften,

aller Geisteswissenschaften überhaupt. Es gibt keine Geisteswissen-

schaft, welche nicht „Sollenswissenschaft“ (Normwissenschaft) wäre,

nämlich in ihrer Eigenschaft als Wissenschaft von den Dingen nach

ihrem reinen Wesen und Begriffe (ihrer „Vollkommenheit“, „Ge-

solltheit“, „Norm“). Von s o l c h e r / N a t u r e i n e r v o l l -

k o m m e n h e i t s - , S o l l e n s - o d e r N o r m - W i s s e n -

s c h a f t i s t a u c h d i e G e s c h i c h t e .

Vor diesem Satze wird die heutige Geschichtswissenschaft zurück-

schrecken. Aber es hilft nichts: er gilt für jede Ganzheitswissen-

schaft, daher auch für die Geschichtsschreibung. Die Geschichts-

schreibung muß entweder Naturwissenschaft werden — und dann

gibt sie sich selber auf, oder sie ist Ganzheitswissenschaft, dann muß

sie den reinen Wesensgehalt ihres Gegenstandes erfassen; und eben

dieser ist das gesollte Sein, die „Norm“. Jeder begreift die Not-

wendigkeit, welche die Geschichtsschreibung zwingt, von „Auf-

1

Vgl. meine Bücher: Kategorienlehre (1924), 2. Aufl., Jena 1939, S. 371 ff.

[3. Aufl., Graz 1969, S. 335 ff.]; Gesellschaftsphilosophie, München und Berlin

1928, S. 117 ff. [2. Aufl., Graz 1968, S. 182 ff.].