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Orten zugleich, wenn sie aus mehreren Brüchen entsteht. Tritt in-

nerhalb des g e i s t i g e n L e b e n s z. B. auf dem Gebiete der

Religion ein Bruch ein, indem ein neues Bekenntnis auftritt oder

auch nur eine neue Frömmigkeitsrichtung sich von der bisherigen

stark abhebt (z. B. die Franziskaner gegen Dominikaner im Mittel-

alter), so ergeben sich daraus Spannungen. Ihr gesellschaftlicher Ort

ist mit der bestimmten Stellung gegeben, welche die Religion in-

nerhalb der Ausgliederungsordnung der Gesellschaft einnimmt. /

Ebenso schaffen die Brüche, die durch das Auftreten neuer Schulen in der

Wissenschaft, neuer Richtungen und Stile in der Kunst entstehen, Spannungen,

deren gesellschaftlicher Ort mit dem Orte ihres Bruches bestimmt ist. Wie un-

endlich tief auch diese Spannungen, die aus rein geistigen Veränderungen her-

vorgehen, den Menschen berühren, zeigt grell die Geschichte von E. Th. A.

Hoffmann „Haimatochare“, in der zwei Naturforscher, Herzensfreunde, schließ-

lich im Zweikampfe einander töten, weil der eine — ein Insekt entdeckte, das

er dem andern vorenthielt

1

. Das mag lächerlich klingen und ist doch tief lebens-

wahr, weil darin zum Ausdrucke kommt, daß der Forscher für seine Erkennt-

nis das Leben einsetzt, so daß auch kleine Gegensätze den ganzen Menschen

berühren und schließlich die besten Freunde auseinanderreißen. Daß die Mei-

nungsverschiedenheiten zwischen Gelehrten sich so oft zu Feindschaften auf

Leben und Tod auswachsen, ist eine Tatsache der Geschichte. Sie wird durch

Kleinlichkeit und fast krankhafte Eitelkeit oft verzerrt, hat aber tiefere Gründe.

Ob man nun an die Spannungen: Fichte Schelling; Schelling:Hegel; Schleierma-

cher :Fichte, Schopenhauer:Hegel; Goethe:Kleist denkt; oder aber an die Span-

nungen zwischen Galilei und der Kirche, Newton und Goethe, überhaupt an

den Verfahrenstreit in den Naturwissenschaften seit Galilei, wovon der Ver-

fahrenstreit in der Volkswirtschaftslehre (Menger :Schmoller) nur ein kleiner

Ableger ist — stets wird der geistesgeschichtliche und schließlich der politische

Hintergrund dieser Spannung deutlich. Auch auf dem großen Schauplatze der

Weltgeschichte ist es zuletzt der Streit der Gedanken, den wir überall finden.

Geistesgeschichte schreiben heißt nicht nur die geistigen Strömungen als solche

aufzeigen, sondern auch die Brüche, die neuen Fragen, Aufgaben, Gegensätze,

Kämpfe, kurz: die mannigfachen Spannungen darstellen, die im Leben daraus

entstehen. Die Brüche, die ihnen zugrunde liegen, sind stets viel einfacher, die

Spannungen dagegen viel mannigfaltiger, weil sie aus den Veränderungen der

Gliedstellung in den verschiedensten und entferntesten gesellschaftlichen Berei-

chen hervorgehen. D i e s e M a n n i g f a l t i g k e i t d e r S p a n n u n g e n

a u s z u m i t t e l n , i s t d a s U m u n d A u f d e r G e i s t e s g e -

s c h i c h t e .

Von den Spannungen ragen jene des A n s t a l t w e s e n s her-

vor. Die Spannungen zwischen Anstalten (Organisationen) / sind es,

welche die politische Geschichte, die Krone aller Geschichtsschrei-

1

Ernst Theodor Amadeus (Wilhelm) Hoffmann hat diese Erscheinung sehr

beschäftigt, so auch im „Meister Floh“ (1815), wo die feindlichen Gelehrten ein-

ander durch den Blitz der zauberischen Fernrohre töten wollen.