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Ein Schritt weiter, der sich ebenso von selbst macht, ist es, das

Heil als eine zu empfangende G n a d e zu betrachten.

Erlösung, Heil, Gnade, gehören aufs engste zusammen.

δ. Mittlertum

Allerdings ist nicht zu übersehen, wie sehr, besonders in der

indischen Religiosität, durch die Technik der mystischen Übungen

die S e l b s t e r l ö s u n g daneben im Vordergrund stehen möge.

Aber dies — Gnade einerseits, Selbsterlösung andererseits — wird

keineswegs überall als Widerspruch empfunden. Denn der Erlöser-

oder S o t e r - Gedanke, die Vorstellung eines rettenden, helfenden

Gottes, geht ja n e b e n dem Selbsttun, welches die mystischen Übun-

gen vorschreibt, stets und überall einher (vielleicht mit Ausnahme

des Buddhismus, der die Götter nicht hoch genug stellt — aber

auch hier tritt praktisch der zum Gott gewordene Buddha selbst

ein). In den geschichtlichen Religionen finden wir demnach die Er-

lösung überall mit Mittlertum verbunden und so das objektive

Moment der Erlösung neben dem subjektiven.

Das gilt auch von den g n o s t i s c h e n Kreisen und von den

M y s t e r i e n oder W e i h e d i e n s t e n . Wie verschieden auch

die Richtungen seien, der Grundgedanke, es müsse ein Gott — oder

durch ihn ein mystischer Lehrer — vermittelnd eingreifen, oder,

wie bei den Gnostikern, eine himmlische Gestalt sich auf Erden

offenbaren, um den Menschen Gotteserkenntnis und geistige Natur

zu verleihen, dadurch ihnen die Befreiung vom Weltübel zuteil

werden lassen — dieser Grundgedanke fehlt nirgends gänzlich, wie

ein Gang durch die Religionsgeschichte, auch die urälteste, lehrt

1

.

ε. Stellvertretung

Um den Begriff des Mittlertums vollständig zu klären, müssen

wir auf die ganzheitliche Kategorienlehre zurückgehen. Da stoßen

wir auf den Begriff der Stellvertretung. In jeder wahren Ganzheit

können einzelne Glieder die Leistungen anderer Glieder über-

nehmen, für diese daher stellvertretend einstehen, im Organismus

z. B. das eine Auge für das andere, die linke Gehirnhälfte für die

rechte, im Staat, im Heer der eine Leistungsträger für den anderen.

1

Darüber sogleich unten.