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ein Beispiel davon in dem Drama „Das vierte Gebot“ von Ludwig

Anzengruber finden. Alle Leute lassen dort den Verbrecher und Mörder

fallen, die Mutter aber glaubt trotzdem an ihn, sie gibt ihn nicht gänzlich

auf. Dieses Gefühl, das der zur Richtstätte Gehende hat, daß solche

unerschöpfliche Güte, solches unbedingtes Anhängen an seine Seele da ist,

dieses ist es, was er als Kind, als Kind einer Mutter in sich aufgenommen

hat. In seinem Gemüte ist dieses Wissen von Güte aufgegangen und als

unvergänglicher Besitz vorhanden, ist ein Bestandteil seiner Seele

geworden. Diesen Bestandteil hätte kein Mensch aus sich selbst erschaffen

können, wenn er nicht aus einem andern Gemüte hereingestrahlt,

auferweckt worden wäre. Jene Menschen, die o h n e Mutter

aufgewachsen sind — als Waisen oder in beständiger Anstaltserziehung

— sind solche arme Unglückliche, die jenes unersetzliche Grundgefühl

der Kindhaftigkeit nicht in ihrer Seele haben. Wo ein Kind unter

dauernder Anstaltserziehung auf- / wächst (mag sie im übrigen noch so

vorzüglich sein), vorenthält sie dem Menschen jenes Stück Seele, das nur

die Mutter geben kann; daher sich hier ganz nebenher der Schluß ergibt,

daß jede gemeinsame Erziehung — außerhalb der Familie in Anstalten

—- die Menschheit um ein Stück verarmen lassen, sie verhärten würde

1

.

E.

Die E r z i e h u n g

In ihr begegnet uns ein gleiches Grundverhältnis wie das von Mutter

und Kind. Auch hier sehen wir vorerst, daß im Verhältnis von

S c h ü l e r u n d L e h r e r es nicht mit einer mechanischen, nothaften

und äußerlich bleibenden Hilfeleistung sein Bewenden hat, sondern eine

geistige Gegenseitigkeit in beiden Teilnehmern sich entzündet. Willmann

sagt darüber sehr schön: „Wer unterrichten will, muß etwas können, wer

erziehen will, muß etwas sein.“

2

Das erstere, das Unterrichten, kann man

sich auch ganz seelenlos, ganz mechanisch, z. B. durch eine Sprechwalze,

vorstellen; das Erziehen aber nicht. (Die Sprache unterscheidet zu wenig,

wenn sie für das mechanische Aufnehmen und das innere seelische Er-

1

Vgl. auch unten unter „Familie“, viertes Buch, S. 524 ff.

2

Otto Willmann: Empirische Psychologie, 3. Aufl., Freiburg i. B. 1913.