Table of Contents Table of Contents
Previous Page  1542 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 1542 / 9133 Next Page
Page Background

144

[114]

schelrute an den Felsen des Herzens schlägt: und daß eine nicht in

Gezweiung entstandene Geistigkeit in der Welt unmöglich ist.

Alles geistige Werden ist ein E m p f a n g e n , ein Empfangen der

Seele, worin jederzeit zugleich Aktivität ist als Aufnehmen des vom

Andern mir Zugedachten sowohl wie als eigenste, ursprünglichste

Schöpfung. Es ist ein Empfangen, so daß Schüler, Kind und Zuhörer

ebenso wie der Liebende und das größte schaffende Genie und der

Mystiker von ihrem Gezweiten zuletzt sagen müssen: Du hast Neues in mir

geschaffen.

Hier trennt uns eine Welt vom Individualismus. Denn jenes Verhältnis

zwischen den Geistern, das wir als geistige Gemeinschaft oder Gezweiung

bezeichnet haben, zeigt sich niemals als ein solches, daß die

Gezweiungsglieder A und B als vorher schon fertige Geister miteinander in

„Beziehung“ träten; sondern sie zeigen sich eben nur als G l i e d e r . Dies

im folgenden Sinne:

A l l e G e i s t i g k e i t d e r M e n s c h e n w i r d e r s t

a n e i n a n d e r o f f e n b a r — gleichwie die Glieder eines Organismus

erst durch die Gegenglieder zu Gliedern werden, vorher, das heißt an sich

aber nicht Glieder, sondern nur ein Quantum Stoff sind; gleichwie die

Worte des Nibelungenliedes erst dadurch zu Gliedern des Liedes werden,

daß sie an einer bestimmten Stelle in den Strophen, in den Verszeilen und

Sätzen stehen, ohne diese Gliedstellung und Gegengliedstellung aber nur

Buchstabenhaufen wären; gleichwie die Reime eines Verses erst durch die

Gegenreime zu Reimen werden, ohne diese aber Wörter wie andere

wären; gleichwie die Worte der Sprache erst durch die Mitbedeutungen

der anderen Worte einen Sinn erhalten, ohne sie aber nicht Worte einer

Sprache wären und auch keinen Sinn erlangen könnten; gleichwie die

Merkmale eines Begriffs erst durch die Mitmerkmale ihre Bedeutung

erhalten, ohne jene aber gleichgültige Einzelheiten wären — gleichwie in

allen diesen Fällen nicht ein An-sich, sondern das G l i e d h a f t e den

Bestand des Einzelnen begründet; so gilt auch vom Menschen: der

m e n s c h l i c h e G e i s t h a t n i c h t E i n z e l h e i t , s o n d e r n

G e z w e i u n g z u r D a s e i n s f o r m . Ohne Gezweiung, ohne Sein

im Andern kann der menschliche Geist ebensowenig ein Selbst sein,

ebensowenig leben und werden, wie man ohne Wind segeln, wie man im

luftleeren Raum fliegen kann. Es ist ein Grundirrtum der uns

eingepflanzten indivi- /