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1.

Der Begriff „Möglichkeit“ wird einmal im passiven, dann wieder im aktiven

Sinne genommen, beide Bedeutungen werden miteinander verwechselt

1

. „A k -

t i v e M ö g l i c h k e i t “ bedeutet die „Form“, sofern sie nicht mit der Materie

vereinigt ist, aber sich mit der Materie vereinigen könnte. Diese aktive Möglich-

keit ist es, die zweifellos logisch vor der Wirklichkeit ist, da sie, wie wir oben

darlegten, selbst eine Wirklichkeit höherer Ordnung darstellt. P a s s i v e M ö g -

l i c h k e i t bedeutet der Stoff (

ϋλη

), sofern er die verschiedenen Formen in sich

aufnehmen kann. Der Stein kann die Form einer Bildsäule aufnehmen. Diese pas-

sive Möglichkeit ist bloße Aufnahmsfähigkeit und ist nicht logisch vor der

konkreten Wirklichkeit. Sie ist nur eine genetische Bedingung dafür, daß die

F o r m der Bildsäule auch wirkliche Bildsäule werde. (Die weiteren Begriffe

von tätiger und erleidender Möglichkeit, wonach erstere schlechthin die Fähigkeit

etwas zu t u n , letztere die Fähigkeit etwas zu e r l e i d e n ist, und daher

beide Male auch vom Kompositum — von Form + Stoff — gelten, sind nur ab-

geleiteter Art.)

Nach unserer „Kategorienlehre“ ist eine Verwechslung der tätigen und er-

leidenden Möglichkeit ausgeschlossen, denn die tätige Möglichkeit ist an die

R ü c k v e r b u n d e n h e i t und ihren Vorrang gebunden; die erleidende an

die G e z w e i u n g h ö h e r e r O r d n u n g

2

.

2.

Das „Wirkliche“ wird, wie oben dargelegt, einmal im Sinne der konkreten

Wirklichkeit gebraucht, die bei Aristoteles aus Form und Stoff besteht; dann

wieder als „Form“ allein verstanden, dasjenige, was gerade die tätige Möglichkeit

ist und in diesem Sinne ein intelligibel Wirkliches, Überwirkliches ist

3

. Aber

nur das Wirkliche im Sinne des Zusammenbestehens von Form und Stoff hat

genetisch den Vorrang. Die tätige Möglichkeit (die Form, der Begriff, die Idee) /

hat nicht genetisch, dagegen wesenhaft den Vorrang, wie oben gezeigt; eng ver-

wandt hiermit ist noch:

3.

Das „Wirkliche“ wird einmal als sinnfällige Wirklichkeit verstanden (die

dann aus Form und Stoff besteht, das sogenannte compositum,

σύνολον)

,

und

ein andermal als die lautere Wirklichkeit

(

άπλώς ένέργεια

)

des höchsten We-

sens. Statt zu folgern, daß die lautere Wirklichkeit vor der Wirklichkeit niederer

Ordnung ist, wird gefolgert, daß die Wirklichkeit überhaupt vor der Möglichkeit

sei.

Dies sind die drei Punkte, in denen Aristoteles selbst und noch mehr den

Aristotelikern eine Verwechslung unterlief und durch welche die falsche Verall-

gemeinerung des Satzes: „Das Wirkliche ist vor dem Möglichen“, bedingt

wurde.

1

Aristoteles ist auch diese Unterscheidung nicht unbekannt, er hält sie aber

nicht immer fest. Vgl. die Nachweise bei Matthias Kappes: Aristoteles-Lexikon,

Paderborn 1894, unter

δύναμις

und Hermann Bonitz: Index Aristotelicus, Ber-

lin 1870, 206 a, 26 ff., 207 b, 28 ff.

2

Siehe unten S. 167 f.

3

Siehe oben S. 92 f.

7 Spann io