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Ilias, Odyssee, Edda, Sagas, Heldenlieder, Jugendweihen, Bräuche,

heilige Spiele, Feste, Totenfeiern erhalten im Volksleben weit mehr

die Vergangenheit lebendig, durchdringen es weit mehr mit Ge-

schichte als heute Volksschulunterricht und gelehrte Forschung tun.

Alles gemeinsame Volksleben ist nur durch lebendig bleibende

Geschichte möglich.

Eine Vorstellung von der Lebendigkeit der Überlieferung vermittelt des

Polybios Bericht: „Wenn der Leichenredner [einer römischen Leichenfeier] mit

seiner Rede auf den Verstorbenen zu Ende gekommen ist, geht er auf die an-

dern anwesenden [durch Masken dargestellten] Toten über: beim Ältesten be-

ginnt er und berichtet die Erfolge und Taten jedes Einzelnen. Immer wieder

wird so die Erinnerung an die Tapferkeit edler Männer aufgefrischt; unsterblich

wird dadurch der Ruhm derer, die eine /ruhmvolle Tat vollbrachten, bekannt

der Menge und überliefert der Nachwelt der Name der Wohltäter des Vater-

landes“

1

.

Daß gemeinsames Volksleben nur durch lebendig bleibende Ge-

schichte möglich ist, dafür brauchen wir als Beispiel nur die Sprache

hier zu wählen, in welcher Verfasser und Leser sich verständigen.

Indem wir uns nicht in Mundarten, sondern hochdeutsch, das heißt

in der Gemeinsprache ausdrücken, ist eine Vergangenheit in uns

gegenwärtig: die Sprache Luthers nämlich, die von seinen Zeitgenos-

sen und Nachfolgern erlebend festgehalten wurde. Darin spricht sich

ein uraltes Geschehen, das noch andauert, aber auch ein gemeinsames

Schicksal und eine bestimmte Haltung unserer Vorfahren aus, ein

Geschehen, eine Haltung, die in uns wach geblieben. Denn um die

örtlichen Mundarten zurücktreten zu lassen, sind ein gemeinschaft-

liches völkisches Leben und eine gewisse Selbstüberwindung der ge-

schichtlichen Sonderindividualitäten nötig.

Aber indem wir uns nicht nur neudeutsch unterreden, sondern

deutsch schlechthin, greifen wir mit kaum gefühlten und doch un-

endlich tiefen und festen Wurzelfasern in die deutsche Vergangen-

heit, in das Denken, Fühlen, Erleben, Hören und Sprechen deut-

scher Menschen hinunter, viele Jahrtausende tief, solange man nur

von deutschem Wesen sprechen mag; und vom Augenblick der voll-

endeten Deutschwerdung noch viel tiefer und weiter hinab, bis an

den Anbeginn menschlichen Sprechens, ja menschlichen Seins über-

haupt.

1

Polybios von Megalopolis: 6. Buch, Kapitel 54.