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[8/9/10]

wie in / Ungarn und Rußland! In allen diesen und vielen anderen

Fällen wäre Europa nicht so, wie es ist; die germanischen Stämme

vom Belt bis an die Etsch wären heute nicht das deutsche Volk und

Herder, Goethe, Schiller, Novalis — wenn sie erschienen wären, hät-

ten in anderen Tönen und hätten nicht zu uns, wie wir sind, son-

dern zu anderen geredet. Jenes Abwehren der Perser, Punier, Hun-

nen, Avaren, Araber, Tataren, Türken bedeutete, daß die früher

gebildete Kultur zuerst im antiken, dann im christlich-germanischen

Kreise Europas sich behaupten und auch eine gewisse Stetigkeit ihrer

eigenen politischen Organisation bewahren konnte. Wären jene

Völker dagegen eingedrungen, dann wären andere geistige Mächte

mit anderen rassischen Grundlagen in unser Leben hineinverpflanzt

worden; eine andere Vergangenheit wäre in uns lebendig, wir wären

nicht, die wir sind.

Wie immer wir die Sache ansehen, ob von den wirklichen oder

den möglichen Vorgängen her, überall erweist sich uns Geschichte

als lebendiges Weiterbestehen des Alten im Neuen.

Diese Bestimmung des Wesens der Geschichte gibt uns die Grund-

lage, aber sie ist noch nicht erschöpfend. Sie führt uns zu verschie-

denen Fragen und Denkaufgaben des Geschichtsbegriffes hin.

Zuerst zu dem Begriff der Z e i t . Warum ist uns heute die Gül-

tigkeit des Begriffes der Geschichte noch nicht selbstverständlich?

Warum gibt es noch Menschen, die behaupten, es gebe keine Ge-

schichte, Geschichte sei kein Zusammenhang des Lebens über die

Zeiten hin, sondern sei ein wüster Tummelplatz sinnloser Gescheh-

nisse, warum wird dergleichen Schopenhauer noch nachgesagt? Das

hat mancherlei Gründe und ist unter anderem im Wesen der heute

freilich absterbenden individualistischen Denkweise tief verwurzelt,

und diese im Wesen der Aufklärungszeit überhaupt. / Die materia-

listische Denkweise dehnt sich auch auf den Begriff der Zeit aus, in-

dem man nämlich die Gegenwart schlechthin als „vergebend“, als

nicht mehr seiend faßt und die Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

in mechanischer, äußerlicher Weise als schlechthin getrennt zu den-

ken pflegt. In Wahrheit bilden aber alle drei „Abmessungen“ der

Zeit eine Einheit, so zwar, daß keine ohne die andere denkbar wäre.

Es besteht eine Einheit der Zeit, in die vor allem auch die Zu-