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irgendwo ereignete. Wenn geschichtlich irgendwo der Verfall das Letzte ist, so

bedeutet das nicht, daß die Altersstufenfolge des leiblichen Organismus für die

Geschichte tatsächlich gälte, denn das Fehlerhafte, der Verfall, kann auch schon

am allerersten Anfang einsetzen. Ein „Verfall“, etwa der / Musik, geschieht zwar

in der Zeit, s t e h t a b e r b e g r i f f l i c h w e d e r a m E n d e , n o c h a m

A n f a n g , s o n d e r n i s t i n j e d e m Z e i t p u n k t e w e s e n s w i d r i g .

Das gleiche gilt auch für die „Blüte“. Die geistige Blüte kann in die leibliche

Jugend fallen, es kann aber auch schon in der Jugend geistige Erstarrung, Fehl-

sinnigkeit einsetzen, während erst später, im Alter, eine Erweckung, eine geistige

Vertiefung erfolgt. Das lehrreichste Beispiel erlebt jeder akademische Lehrer im-

mer wieder. Die geistige Blüte sieht er am häufigsten, wenn das erste Semester

beginnt, und den Verfall (das Verlieren des Ideals und der inneren Anteilnahme

an den höheren Fragen des Wissens), ehe die Studienzeit ihrem Ende entgegen-

geht, während gerade da der Aufstieg einsetzen sollte. In der Jugend also be-

ginnt der Geist nur zu oft schon zu „altern“.

Wo der Verfall nicht überwunden wird, steht er freilich am Ende. Entschei-

dend ist aber die Möglichkeit — und das zeigt wieder die Größe des Geistes —

daß der Verfall wieder gut gemacht werde und noch spät eine Erweckung, eine

Vertiefung erfolgt.

In der Romantik z. B. sehen wir deutlich gewisse Mängel schon in der Grün-

dung. Novalis, der bedeutendste Gründer, stirbt, ehe er seine Dichtung und

seine Gedanken voll ausbilden und begründen kann. Diese Schwächen sind wohl

nicht mehr überwunden worden. Nicht so steht es bei anderen Schwächen der

Gründung, wie sie etwa mit den Mängeln der Person von Clemens Brentano,

von Werner, Friedrich Schlegel, Wilhelm Schlegel gegeben waren. Das waren Ver-

fallserscheinungen, die bereits in der Gründung hervortraten, die aber von der

späteren Schule vielfach überwunden wurden; denn die Romantik hat sich trotz-

dem entfaltet und vertieft.

Der tiefeingewurzelte Irrtum, daß der Verfall am Ende stehe,

hängt mit dem falschen Fortschrittsbegriffe zusammen, wonach je

später desto Höheres sein sollte, daher der Verfall am Ende ge-

wissermaßen nichts als der zerstörte, mißlungene Fortschritt wäre.

Dem Wesen der Sache nach steht in Wahrheit, so zeigten wir wie-

derholt, am Ende Vertiefung, Verklärung, nicht Verfall. Die Er-

fahrung der Geschichte und des Lebens lehrt denn auch, daß

Schwäche, Widerstandslosigkeit, Verfall mehr am Anfange stehen.

Unzulänglichkeiten, Fehler können eine Gründung sofort zerstören,

kaum daß sie das Licht der Welt erblickte. Und das ist die Wahr-

heit des menschlichen Schicksals. Was ein- / mal kraftvoll ins Leben

getreten, braucht vor Fehlem, Mängeln und Gefahren nicht mehr

soviel Sorge zu haben wie das Gebrechliche. Davon zeugt die Ge-

schichte. Wieviele große Entwürfe treten ins Leben, aber sie zer-

fallen durch die mangelnde Lebensstärke. Wieviele staatliche Um-

wälzungen sind mißglückt, wie so vieles entsteht, was im Keime