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retteten, den größten Anstoß zu einer neuen geistigen Bewegung,

der Renaissance, zu geben.

Darum sagen wir immer wieder: Verfall ist kein Begriff, der an

eine Zeitstufe gebunden wäre, am wenigsten an die hohe Entfal-

tungsstufe; aber dem Wesen, der Haltung nach liegt der Verfall

meistens am Anfang.

Das alles möge zuletzt noch ein Beispiel aus der Staatengeschichte

beleuchten:

(1)

G r ü n d u n g des mittelalterlichen Staates durch die Karo-

linger, und zwar als L e h e n s s t a a t .

(2)

E n t f a l t u n g dieses Lehensstaates in gesunder Weise und

zwar: Entfaltung des Lehensstaates auf der alten Grundlage (Ent-

sprechung in der Kunst: romanischer Kunststil).

(3)

U m b i l d e n d e E n t f a l t u n g durch Aufkommen des

Ritterstandes. Umbildung des alten Lehensstaates zum ritterlichen

Lehensstaate (zugleich: g o t i s c h e r K u n s t s t i l ) . — Insofern

im späteren Teile dieser Entfaltung die Entwicklung einer Anarchie

der ständischen Gewalten liegt, wird sie bereits zur F e h l e n t -

f a l t u n g. Diese nimmt aber erst mit der späteren Stufe bestimm-

te Formen an.

(4)

F e h l e n t f a l t u n g : Vom ritterlichen Lehensstaat zum

Feudalstaat; zugleich zum Territorialstaat, zum Zentralismus auf

der Fürstenseite, was als Antwort oder G e g e n e n t f a l t u n g /

gegen die drohende Anarchie der ständischen Gewalten zu ver-

stehen ist. Fehlentfaltung erblicken wir auch darin, daß die Heer-

bannpflicht des ritterlichen Adels langsam außer Kraft tritt (indem

erst die Landsknechte, dann die stehenden Heere an die Stelle des

Ritterheeres treten). Der Lehensherr zieht nicht mehr mit seinen

eigenen Leuten in den Krieg und macht dadurch die Probe auf den

Mann nicht mehr. Der Ritter verliert als Lebensführer an Boden

und wird dadurch immer mehr zum Feudalherrn, dessen Führer-

schaft erstens weniger umfassend und zweitens viel weniger erprobt

ist.

(Entsprechend in der Kunst: Renaissance, Barock — beide be-

zeichnet durch Loslösung von dem Grunde des Heldischen und dem

Grunde der Frömmigkeit und der allbeherrschenden metaphysischen

Einstellung. Hinwendung zur reinen Gestalt und Schönheit, aber