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abgeschwächt, abgelenkt. Gerade dadurch, daß überall in Gründung und Ent-

faltung aller Teilinhalte und Stufen sich die Fehlbildungen einstellen, und daß

je n a c h d e n V o r r ä n g e n d i e T r a g w e i t e d e r F e h l a u s g l i e -

d e r u n g v e r s c h i e d e n i s t , gerade dadurch wird die geschichtliche Zer-

gliederung so unendlich schwierig und verwickelt.

Eine jüngere, uns noch sehr verständliche geschichtliche Zeit, die R e f o r -

m a t i o n , vermag uns am besten als Beispiel zu dienen. Hier scheint sich der

Vorrang der Religion vor dem Staate angesichts der staatlichen Widerstände

gegen die neue Glaubensform nicht zu bewähren. Ranke sagt einmal geradezu:

„Was nützt das ganze reine Geistesleben, wenn es den Staat nicht erobern

kann?“ Wir sehen in der Reformation das Schauspiel, daß fast das ganze deutsche

Volk von dem neuen Glauben ergriffen war, daß er aber nur dort sich behaup-

ten konnte, wo der Staat ihn stützte. Wo der Staat gegen den neuen Glauben

eingreift, verschwindet er („Gegenreformation“). Selbst in Österreich waren

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/10 der Bevölkerung protestantisch, nach der Gegenreformation nur verschwin-

dende Überbleibsel und selbst diese wurden noch zum Teil ausgetrieben (zuletzt

flohen die Salzburger Protestanten unter Maria Theresia nach Ostpreußen). —

Das scheint unseren Sätzen zu widersprechen, denn das religiöse Leben hat nach

ihnen den unbedingten Vorrang. Warum hat er sich nicht durchgesetzt und auch

die oberste Anstalt, den Staat, bestimmt? Sieht man näher zu, so wird der

Grund klar. Wenn in der deutschen Reformation sich die vorrangmäßige Über-

legenheit des religiösen Lebens gegenüber dem staatlichen Leben nicht ohne wei-

teres geltend machte, so kommt das daher, daß die Einheitlichkeit und Ent-

schiedenheit dieses neuen religiösen Lebens selbst keine dauernde war. Ranke

hebt es sehr hervor, daß Spaltungen und Sektenbildungen im protestantisch-

kirchlichen Leben Maximilian davon abhielten, seinen fast gereiften Entschluß,

Protestant zu werden, das heißt den Staat dem Protestantismus auszuliefern,

auszuführen: Das religiöse Leben selber hat nicht durchgehalten. Gerade das

war aber hier besonders nötig, da nicht nur infolge der deutschen Vielstaaterei

vielerlei innere Widerstände entstanden, das heißt die Vorränge sich in vielerlei

Anstalten geltend machen mußten — sondern auch auswärtige Widerstände zu

besiegen waren. Denn da das Reich eine europäische Stellung hatte und gleich-

sam der Oberstaat über ganz Europa war, die Gliedhaftigkeiten daher zum Teil

recht vielverzweigte waren (zur Hansa, zum deutschen Ritterorden, zu Preußen,

zu Österreich gehörten Mächte, die nicht selbst Glieder des Reiches waren; roma-

nische Länder waren auf andere Weise dem Reiche / mittelbar verbunden); war

auch die Änderung seines staatlichen Lebens nicht seine eigene Angelegenheit

allein. Also anders als etwa bei England, wo sich alles viel ausschließlicher im

Innern des Staates abspielte, daher der Vorrang der Religion sich dort einfacher

durchsetzen konnte. Diese auswärtigen Widerstände setzten sich mittels des

Hauses Habsburg dem geistig-religiösen Leben des deutschen Volkes damals

entgegen. Daher war das einheitliche Durchhalten des neuen religiösen Lebens

und seine ungebrochene Geltung in Wissen, Kunst, Sittlichkeit um so unent-

behrlicher, je vielfältiger sich sein Vorrang durchsetzen mußte.

Und doch kamen hier noch wesentliche Erleichterungen hinzu, die von grund-

sätzlicher Bedeutung für unsere Frage sind und sogleich ins Auge gefaßt werden

sollen, nämlich das Mitvorhandensein anderer, und zwar unterstützender Span-

nungen. Diese Erscheinungen müssen wir aber zuvor grundsätzlich betrachten.