Previous Page  82 / 473 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 82 / 473 Next Page
Page Background

82

[67/68]

praktischen Teil seiner Frömmigkeit beweist daher nichts gegen das

Vorhandensein eines echt mystischen Kernes.

Es gibt aber auch noch andere Möglichkeiten, aus tiefster Mystik

her den Menschen zu sittlicher und sogar politischer Selbständigkeit

aufzurufen, wie das Zarathustra tat: das lehrt uns das Beispiel der

durchaus ethisch gerichteten Mystik J o h a n n e s T a u l e r s , frü-

her schon des heiligen B e r n h a r d v o n C l a i r v a u x , ferner der

heiligen K a t h a r i n a v o n S i e n a mit ihrer praktischen geschicht-

lich / bedeutsam gewordenen Wirksamkeit. — Ein noch anderes

Beispiel bildet der von G e o r g e F o x begründete Bund der

Q u ä k e r , dessen beherrschender Grundsatz die praktische Tat der

Menschenliebe ist. Allerdings ist der Ausgangspunkt hier nicht von

gleicher Tiefe wie bei jenen großen Mystikern.

F.

M o h a m m e d a n i s c h e M y s t i k

Ein lehrreiches Zeugnis aus der mohammedanischen Welt bietet

die Selbstbiographie G h a z a l i s, geschrieben bald nach 1107

n. Chr. Abu Hamid Ghazali wandte sich nach schmerzlichen reli-

giösen Zweifeln der Mystik des S u f i s m u s zu.

Die erste Bedingung der mystischen Ekstase ist ihm die Reinigung: „Das Herz

muß ganz von dem gereinigt werden, was Gott fremd ist“

1

. — Genau dasselbe

sagt Meister Eckehart, indem er fordert, die Seele leer zu machen von allen

irdischen Dingen: soll Gott eingehen, muß die Kreatur ausgehen. — Nun die

zweite Stufe bei Ghazali: „Am Anfang des Weges beginnen die Offenbarungen,

daß sie in ihren Nachtwachen die Engel und die Seelen der Propheten wahr-

nehmen ...“, das heißt Visionen haben

2

. Genauso betrachtet Meister Eckehart

die visionären Zustände noch nicht als mystische Erfahrung. Ghazali fährt fort:

Darauf erhebt sich die (mystische) Ekstase über die Wahrnehmung von For-

men und Bildern (das heißt über die Visionen) bis zu jenen Graden, denen die

Möglichkeit der Darstellung gebricht. „Kein Mensch darf danach trachten, es

zu erklären, ohne daß sein Wort schwere Sünde in sich schließt... Kurz: Die

Sache ist bis zu dem Punkte gelangt, wo sich manche von ihnen einbilden, das

sei Verschmelzung ( h u l u l) andere: Ineinssetzung ( i t t i h a d ) , wieder andere:

Vereinigung (w u s u l). Aber das ist Sünde ... Wer davon nicht etwas kostet,

der kennt vom wahren Wesen der Prophetie (mystischen Ekstase) nur den

Namen“

3

.

1

Heinrich Frick: Ghazalis Selbstbiographie, Ein Vergleich mit Augustins

Konfessionen, Leipzig 1919, S. 36.

2

Heinrich Frick: Ghazalis Selbstbiographie, S. 37.

3

Heinrich Frick: Ghazalis Selbstbiographie, S. 37 ff.