[72/73]
87
2. Gottverwandtschaft des Menschen
Ein unendlich wichtiger Beitrag zur Konkretisierung der Religion
ist die unmittelbar und unverbrüderlich in aller mystischen Erfah-
rung liegende Einheit des menschlichen Seelengrundes mit Gott.
Hier liegt der wahrste Kern der Religion. Geradewegs drückt dies
Angelus Silesius aus:
„Bist du aus Gott gebor’n, so blühet Gott in dir:
Und seine Gottheit ist dein Saft und deine Zier.“
Die gesamte Mystik der Welt lehrt die Göttlichkeit der Seele. Nie
gab es auf Erden eine Mystik, welche sie nicht lehrte. Die / Mystik
kann nicht anders, denn sie erfährt es unmittelbar und läßt sich
diesen kostbaren Schatz ihres inneren Lebens nicht rauben.
Die hohe Stellung, welche jede höhere Religion dem Menschen
anweist, beruht auf dieser Erfahrung. Sie kommt auch in den
Mythologien auf mannigfache Weise zum Ausdruck, besonders da-
rin, daß diese die Menschen von Göttern abstammen lassen.
Ein anderes als die Erfahrung der Göttlichkeit der Seele selbst, ist
freilich ihre Deutung und Anwendung. Diese Deutung ist den je-
weiligen Begriffsmitteln unterworfen, welche die verschiedenen Kul-
turen dem Mystiker darbieten. Ob daher die Einheit der Seele mit
Gott geradezu als Einerleiheit, Identität im strengen realen Sinn
verstanden werde und die V e r g o t t u n g
1
damit auf die Spitze
getrieben erscheint (womit unter einem ein naturalistisches Moment
in die Deutung kommt, da Gott dabei allzuleicht nach Art der
natürlichen Erscheinungsweise des menschlichen Geistes erfaßt wird);
oder ob die Einheit der Seele mit Gott nur aus G n a d e gedacht
werde, so daß trotz aller Vergottung die Seele doch nur ein Ge-
schöpf bleibt, über welchem der Schöpfer noch himmelhoch steht,
wie Meister Eckehart in der 56. Predigt sagt: „Gott ist viel tausend
Meilen darüber“
2
; oder ob endlich von vornherein nur eine We-
sens V e r w a n d t s c h a f t , keine reale Wesensgleichheit behauptet
werde, welche Verwandtschaft noch unbestimmter als E b e n b i l d -
l i c h k e i t gefaßt werden kann — das alles geht auf Rechnung der
begrifflichen Deutung des Erlebten, auf Rechnung der jeweiligen
1
Siehe unten S. 89.
2
Franz Pfeiffer: Meister Eckhart, Leipzig 1857, S. 180, Zeile 17 f.