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1. Die R e l i g i o n b e s t e h t i n d e r V e r m e n s c h l i -

c h u n g v o n N a t u r k r ä f t e n — d e r s o g e n a n n t e n

„ A n t h r o p o m o r p h i s m u s “ o d e r „ N a t u r i s m u s “

Indem der Mensch die Naturvorgänge nach Ähnlichkeit seiner selbst deutet,

komme er, so meint diese Lehre, zur Annahme überirdischer Wesen. Blitz und

Donner werden durch eine menschenähnliche Macht, zum Beispiel durch Donar

oder Zeus, verursacht gedacht. — Ferner sei dieser Gottesbegriff zugleich eine

Auswirkung „ p r i m i t i v e r

U r s a c h e n e r k l ä r u n g “ . „Auf allen Gesit-

tungsstufen“, sagt Oskar Peschel, ein führender Forscher der älteren Völker-

kunde, „ . . . werden religiöse Empfindungen stets von dem gleichen inneren Drang

erregt, nämlich von dem Bedürfnis, für jede Erscheinung ... eine Ursache .. zu

erspähen.“

1

Wir kommen auf diese Auffassung noch zurück. Gleichwohl erklären wir

schon jetzt, daß „Vermenschlichung“ und „Ursachenerklärung“ nie und nimmer

das ergibt, was erklärt werden soll: das Gotteserlebnis, die Religiosität! Bloße

„Vermenschlichung“ ergäbe nur vergrößerte Menschen, nur Sinnliches, niemals

das Übersinnliche.

Verwandt mit dem Anthropomorphismus ist die schon im Altertum versuchte

Erklärung der Religion aus der F u r c h t . Die Furcht vor Blitz und Natur-

gewalt habe die Götter erfunden

2

. — Auch in diesem Falle bliebe zu erklären,

wieso die Furcht über das Sinnliche zum Übersinnlichen fortschreite.

Frühere naturalistische Soziologen, so Auguste Comte und John Lubbock

3

,

hielten / den (aus jener „primitiven Ursächlichkeit“ folgenden) F e t i s c h i s -

m u s, das ist die Verehrung lebloser Gegenstände, für die tiefste Stufe und die

einfachste Erscheinungsform der Religion. Doch ist diese Ansicht längst auf-

gegeben, seit man weiß, daß niemals die Gegenstände an sich göttlich verehrt,

sondern stets nur als Wohnung höherer Mächte (man denke an Amulette) oder

als ihre Vertreter und Zeichen betrachtet wurden.

2 . D i e R e l i g i o n w u r z e l t i n d e r D e u t u n g d e r

T r a u m e r f a h r u n g

Im Traume und in traumähnlichen Zuständen (Verzückung, Gesicht, Hypnose)

macht der ursprüngliche Mensch die Erfahrung, daß er seinen Ort verläßt, zu

entfernten Freunden wandert, mit ihnen spricht und so fort. Dadurch entsteht

nach empiristischer Meinung die Annahme einer selbständigen, vom Körper los-

trennbaren Seele, die dann Unterlage für weitere religiöse Vorstellungen werde,

1

Oskar Peschel: Völkerkunde, bearbeitet von Alfred Kirchhoff, 6. Aufl.,

Leipzig

I

885, S.

257.

2

Titus Lucretius Carus: De rerum natura, libri VI, liber 6, 50; viele Auf-

lagen und Übersetzungen, zum Beispiel: Von der Natur der Dinge, mit dem

lateinischen Text nach der Wakefield’s Ausgabe, 2 Bde, Leipzig 1821, Bd 2,

6. Buch, 50, S. 233.

8

John Lubbock: The origin of civilisation and the Primitive Condition of

Man, London 1870; deutsche Ausgabe: Die Entstehung der Zivilisation und der

Urzustand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Leben

der Wilden, übersetzt von Adolph Passow, 1. Aufl., Jena 1875 [6. Aufl., Jena

1902].