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421

F.

R e l i g i o n s l o s e V ö l k e r ? D i e h e u t i g e n

W e l t r e l i g i o n e n

Die Behauptung, die sich stellenweise in der älteren Soziologie fand, daß es

r e l i g i o n s l o s e V ö l k e r gäbe

1

, ist heute wohl ausnahmslos fallen gelas-

sen. Das Erlebnis des übersinnlichen kann dem Menschen niemals fehlen. — Eine

ernstere Frage stellt hier lediglich der Buddhismus.

Auch der reine Buddhismus (von den späteren Formen, die Buddha selbst

zur Gottheit machen, ganz abgesehen) ist n i c h t a t h e i s t i s c h . Nicht nur,

daß er die Götter und Geister ausdrücklich bestehen läßt, aber allerdings ent-

thront, indem er sie als Sterbliche und nicht als das Höchste hinstellt; sein Grund-

gedanke der E r l ö s u n g wäre nicht möglich ohne ein Letztes, ein wahrhaft

Seiendes, zu dem man flüchten kann. „Es gibt, ihr Jünger, ein Ungeborenes,

Ungewordenes, nicht Gemachtes, nicht Gestaltetes. Gäbe es ... dieses ... nicht,

so würde es für das Geborene ... keinen Ausweg geben.“

2

Wie dagegen die heutige empiristische Lehre über die Weltreligion denkt,

möge an dem Urteil W i l h e l m W u n d t s

3

verdeutlicht werden.

„Unsere heutige Kultur kennt nur zwei Weltreligionen im eigentlichsten Sinne

dieses Wortes: den B u d d h i s m u s u n d d a s C h r i s t e n t u m . D e r K o n -

f u z i a n i s m u s , der nach der Zahl seiner Bekenner vielleicht hierher ge-

rechnet werden könnte, ist mehr ein ethisches Lehrsystem als eine Religion, und

er birgt daher innerhalb der Masse der chinesischen Bevölkerungen eine Fülle

religiöser Entwicklungen in sich, unter denen der altüberlieferte Ahnenkult

und der von außen eingedrungene Buddhismus in erster Linie stehen. Der

I s l a m ist eine Mischung jüdischer und christlicher Religionsanschauungen mit

alten arabischen und turanischen Überlieferungen, die als solche die Mission

einer Kulturreligion gegenüber halb oder ganz barbarischen Völkern glänzend

erfüllt hat, aber eine Religionsschöpfung von originaler Bedeutung nicht ge-

nannt werden kann. Das J u d e n t u m endlich hat einen überaus wichtigen, in

seinen Wirkungen gar nicht hinwegzudenkenden Einschlag des Christentums

gebildet; selbst aber ist es keine Weltreligion, sondern es gehört zu jenen unter-

legenen Kulten, die in der vorkonstantinischen Epoche des römischen Welt-

reiches um die Herrschaft kämpften.“

„Welches sind nun aber die treibenden Kräfte gewesen, die jenen beiden

großen Religionen diesen Sieg verschafften? Sicherlich nicht bloß ihre inneren

Vorzüge... und ebensowenig bloß die Gunst äußerer Verhältnisse, wie etwa

die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion durch Konstantin. Gewiß

war es vielmehr eine Fülle von Bedingungen, die hier zusammenwirkten, und

unter denen der Zug nach einer rein humanen. . . Religion in erster Linie

steht. Insofern gerade dieser Zug mehr oder minder allen religiösen Strebungen

dieser Übergangsepochen eigen ist, kann übrigens auch er nicht von ent- /

scheidender Bedeutung gewesen sein.“ Wundt bespricht nun den Ursprung

1

So urteilten die beiden Sarasin: Die Weddas haben keine Religion. Vgl.

die Darstellung der Frage bei Wilhelm Max Wundt: Elemente der Völkerpsycho-

logie, 2. Aufl., Leipzig 1913, S. 76 ff.

2

Fiermann Oldenberg: Buddha, Sein Sohn, seine Lehre, seine Gemeinde,

6. Aufl., Stuttgart 1914, S. 326.

3

Wilhelm Max Wundt: Elemente der Völkerpsychologie, ... S. 491 f.