[353/354]
425
diese einer unmittelbar praktischen, jene einer wissenschaftlichen
Sittenlehre.
Was früher von den g e s e l l s c h a f t l i c h e n B e d i n g t h e i t e n u n d
d e n g e s e l l s c h a f t l i c h e n L e i s t u n g e n der Religion gesagt wurde,
gilt sinngemäß auch für die Philosophie. Für den Unterschied ist entscheidend, daß
Philosophie dem bewußten, abstrakt gebildeten, ja in Wahrheit nur dem genialen
Geiste vollkommen angemessen ist, Religion aber auch dem weniger selbständigen,
unbewußter hinlebenden Menschen Genüge leisten kann. „D en S c h ö p f e r
d i e s e s A l l s z u f i n d e n i s t s c h w e r , i h n a l l e n z u v e r k ü n d e n
u n m ö g l i c h“
1
, sagt Platon, und: „ d a s g e i s t i g e A u g e d e r M e n g e
v e r m a g , w e n n e s a u f d a s G ö t t l i c h e b l i c k t , n i c h t a u s z u -
h a r r e n.“
2
Hiernach scheint das angemessenste Verhältnis zwischen Philosophie und
Religion das zu sein, das im philosophischsten und religiösesten Volk der Welt,
den Indern, von Anbeginn bestand, das der G e h e i m l e h r e . Die Geheim-
lehre des Veda hebt dessen Lehren nicht auf, sondern deutet sie; ähnlich die
M y s t e r i e n der Religionen des Altertums. Darum sind dort auch Theologie
und Philosophie durch keine Kluft getrennt. Religion ist die Philosophie der Menge
und soll es sein — nicht aus Gründen gesellschaftlicher Nützlichkeit, sondern weil
sie die angemessene Form des Empfindens bildet. Philosophie hat Religiosität
zur inneren Grundlage. Philosophie ist Religion in reflektierter und abstrakter
Form. Daher der Satz gilt: Religion ist vor Philosophie; aber Religion will sich
in Philosophie verwandeln, in ihr die höchste Entfaltung finden
3
.
Philosophie ist daher mit der Religion zusammen allezeit das höchste und
führende Kulturelement gewesen — keine von beiden als solche, jede als eigene
Äußerungsform des Metaphysischen, das allein die absolute Priorität im Gei- /
stigen unseres Lebens, damit in aller Gesellschaft und Geschichte innehat. Wenn
daher Hegel sagt, „ d i e P h i l o s o p h i e i s t d a s I n n e r s t e d e r W e l t -
g e s c h i c h t e “ und Schelling in seiner „Philosophie der Mythologie und Offen-
barung“: die R e l i g i o n i s t d a s I n n e r s t e d e r G e s c h i c h t e , so
sprechen beide insofern dasselbe aus, als sie nicht das Äußerliche und Sterbliche
an den Systemen im Auge haben, sondern ihr Inneres und Unsterbliches. Dieses
ist selbst schon der Geist, ist das Geschick alles Lebens.
1
Platon: Timaios, 28e.
2
Platon: Sophist, 254B.
3
Siehe unten unter Vorranglehre, S. 426 ff.