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ursprüngliche, die Grundklasse; alle anderen klassenmäßigen Grup-
pierungen, besonders die politische Klasse, sind nach Marx nur ab-
geleitet.
„Die materialistische Geschichtsauffassung geht“, so sagt Engels, „von dem
Satze aus, daß die Produktion und nächst der Produktion der Austausch der
Produkte die Grundlage aller gesellschaftlichen Ordnung ist; daß in jeder
geschichtlich auftretenden Gesellschaft die V e r t e i l u n g d e r P r o d u k t e
u n d m i t i h r d i e s o z i a l e G l i e d e r u n g i n K l a s s e n o d e r
S t ä n d e sich danach richtet, was und wie produziert wird.“ (In der Urschrift
nicht gesperrt.) — Und Karl Marx in der Vorrede zu seinem Buch: „Das Kapital,
Kritik der politischen Ökonomie“ (1859), 5. Auflage, Hamburg 1919, Seite LV:
„Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen
und geistigen Lebensprozeß überhaupt.“ — Hier ist die Klasse ausdrücklich als
wirtschaftliche Klasse bestimmt. Für Marx bleibt eine andere Möglichkeit gar nicht
übrig, weil ihm die Wirtschaft das Erste (der „Unterbau“) / aller Gesellschaft
ist und daher auch der erste, überdies rein mechanisch-materiell wirkende, Be-
weger aller Geschichte.
Der zweite grundlegende Gedanke Marxens ist bekanntlich, daß
der K l a s s e n k a m p f für den Geschichtsverlauf von ausschlag-
gebender Bedeutung sei. „Alle bisherige Geschichte ist die Ge-
schichte von Klassenkämpfen.“ Es liegt durchaus im Stile jener
Denkweise, daß die Geschichte nun einen „naturgesetzlichen“ Ab-
lauf nimmt, weil auch die Wirtschaft selbst ausschließlich durch
naturursächliche Gesetze (Konzentration, Mehrwertbildung usw.)
bewegt wird. (Sozialer Determinismus.)
Die heutige sogenannte bürgerliche Volkswirtschaftslehre und Gesellschafts-
lehre, sogar die Geschichtslehre, wird von den Grundgedanken dieser Auffassung
so sehr beherrscht, daß sie sich nur dem Grade nach von der marxistischen unter-
scheidet, indem sie entweder ganz nackt den wirtschaftlichen Klassenkampf als
das Erste (Primäre) des Gesellschaftsganges und Geschichtsverlaufes zugibt,
oder indem sie doch eine vermittelte (stets aber ursprüngliche) Bedeutung dieses
Kampfes der wirtschaftlichen Klassen gelten läßt. Die Klasse als wirtschaftliche,
als kämpfende, als durch ihren Kampf unmittelbar oder vermittelt die Gesellschaft
primär bestimmende, nehmen fast alle Heutigen mit mehr oder weniger Ver-
hüllungen an — ein unerhörter, verhängnisvoller Irrweg, den unsere gesamte
gesellschaftliche Wissenschaft genommen hat! Der Grund ist nicht eigentlich die
geradewegs marxistische, sondern die grundsätzlich i n d i v i d u a l i s t i s c h e
Einstellung unserer gesamten Sozial- und Geschichtswissenschaft, welche früher
oder später auf marxistische Formeln führen muß, wie ja auch der Marxismus
selber nur auf dem Grund des Individualismus der liberalen „Klassiker“ denkbar ist.
Geschichtlich ist es unrichtig, daß die herrschenden Kreise — z. B. Monarchen,
Cäsaren, Beamtenschaft, Kriegerschaft, Feudalherren — auch die wirtschaftlich
mächtigste „Klasse“ gewesen seien. Ebenso unrichtig ist es, daß die wirtschaft-
lichen Klassenkämpfe die Geschichte bestimmen. Religiöse, völkische, politische
Kämpfe (die keineswegs, wie Marx behauptet, die Deckform für „wirtschaftliche