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II. Aristoteles
Die Staatslehre des Aristoteles
1
muß ganz von der platonischen Lehre
her
verstanden
werden.
Der
U n t e r s c h i e d
b e i d e r
S t a a t s l e h r e n g e h t a u f d i e v e r s c h i e d e n e F a s s u n g
i h r e r I d e e n l e h r e z u r ü c k . Die platonische Idee ist
„transzendent“ (oder gilt wenigstens dem Aristoteles als solche), daher bei
ihm ein förmliches Herabsteigen der Idee der Gerechtigkeit: die Stände des
Staates; die Gliedschaft der Einzelnen mittels ihrer Seelenvermögen. Die
aristotelische „Form“ oder „Idee“
(
μορφή
forma) ist dagegen „immanent“,
das heißt sie entfaltet sich im Dinge selbst. Daher wird das Augenmerk
hier auf das dingliche Werden, auf die bestimmte Art des
S i c h - E n t f a l t e n s der Idee des Staates in den verschiedenen
geschichtlichen Wirklichkeiten gerichtet. Dadurch erhält die
Aristotelische Lehre im Vergleich zu Platon ihren kennzeichnenden, auf
E r f a h r u n g u n d G e s c h i c h t e g e h e n d e n G r u n d z u g ,
ohne daß aber der „Idealstaat“, das heißt die Lehre von der reinen
Gestaltung der Idee ihre beherrschende Stellung verlöre.
Von der Ideenlehre her versteht sich auch der Satz: „D as G a n z e i s t v o r d e m
T e i l e “
2
, von selbst. Auch stimmt Aristoteles mit Platon darin überein, daß der Mensch
nur im Staate seine Vollendung finden könne
3
, der um des vollkommenen Lebens willen
besteht,
του εύ ζην ενεκα.
.
„Der Staat hat die Aufgabe, die Bürger besser zu machen“
4
—
obwohl Aristoteles in der Schilderung der Entstehung des Staates aus einzelnen Menschen,
die zuerst ein Haus grün- / den, dann eine Dorfgemeinde und schließlich den Staat gründen
5
,
einen individualistischen Gedanken vertritt, der dem Satze „Das Ganze ist vor dem Teile“,
1
Aristoteles: Politik, griechisch und deutsch von Franz Susemihl, Leipzig 1879; eine
neuere Auflage: Politik, übersetzt von Eugen Rolfes, Leipzig 1912 (= Philosophische
Bibliothek, Bd 7); Nikomachische Ethik, deutsch von Eugen Rolfes, 2. Aufl., Leipzig 1921 (=
Philosophische Bibliothek, Bd 5).
2
Aristoteles: Politik, Ausgabe Susemihl: Erstes Buch, Kapitel 1, § 11b; Ausgabe Rolfes:
Erstes Buch, Kapitel 1, S. 1 f. Näheres über diesen Satz, welcher der späteren
individualistischen und empiristischen Sozialwissenschaft der nachmittelalterlichen Zeit
verlorenging und schließlich nicht mehr verstanden wurde, siehe unten S. 77 und in meinem
Buch: Kategorienlehre, Jena 1924, S. 60 ff. [2. Aufl., Jena 1939, S. 66 ff.] (= Ergänzungsbände
zur Sammlung Herdflamme, Bd 1).
3
Aristoteles: Politik, Ausgabe Susemihl: Erstes Buch, Kapitel 2, 1253 a, 31 ff.; Ausgabe
Rolfes: Erstes Buch, Kapitel 2, 1253 a, S. 4.
4
Aristoteles: Politik, Ausgabe Susemihl: Erstes Buch, Kapitel 2, 1252 b, 24; Ausgabe
Rolfes: Erstes Buch, Kapitel 2, 1252 f., S. 2 f.
5
Aristoteles: Politik, Ausgabe Susemihl: Erstes Buch, Kapitel 2, 1252 b, 28 ff.