62
[47/48]
Erst J o h a n n G o t t l i e b F i c h t e gelingt es, das eine Individuum aus dem anderen
zu begründen. Sobald man, sagt er, den Begriff des Menschen „vollkommen bestimmt, wird
man vom Denken eines einzelnen aus getrieben zur Annahme eines andern, um den ersten
erklären zu können .. Ebenso gelingt es ihm, das Sittengebot aus einer objektiven,
überindividuellen Ordnung herzuleiten: „Handle nach deiner Bestimmung!“ Das deutet auf
eine sittliche Weltordnung, auf ein Über-Dir, das gleich der platonischen Ideenwelt über
Gemeinschaft und Einzelnen steht. In der „Anweisung zum seligen Leben“
2
und in den
„Reden an die deutsche Nation“
3
erreicht Fichte die Durchführung dieser universalistischen
Gemeinschaftsidee in der Sittenlehre und Staatslehre wenig- / stens in einigen
entscheidenden Punkten, aber es war ihm nicht vergönnt, planmäßig ein klares System des
objektiven Idealismus in der Staatslehre zu entwickeln.
Dasselbe gilt von S c h e l l i n g
4
. Erst H e g e l
5
gelang es, ein völlig durchgebildetes
Begriffsgebäude aufzustellen. Hegel geht vom Überindividuellen als dem „objektiven Geiste“
aus, der sich stufenweise als Familie, bürgerliche Gesellschaft (zugleich die Wirtschaft
enthaltend) und Staat aufbaut. Der Staat ist die höchste Stufe und befaßt daher alle früheren
in sich. — Hegels Staat ist aber nicht mehr wie der Platons theokratisch.
Den Begriff der Gemeinschaft als Uber-Dir und als geistigen Organismus hat wohl mit
größter Klarheit im deutschen Idealismus
Franz von Baader
erfaßt, jedoch hat er kein
planmäßiges Begriffsgebäude der Sitten- und Staatslehre entwickelt, sondern leider nicht viel
mehr als tiefblickende Aphorismen gegeben
6
, die nur der zu verstehen vermag, der schon das
ganzheitliche Kategoriengebäude beherrscht.
1
Johann Gottlieb Fichte: Sämtliche Werke, herausgegeben von Immanuel Hermann
Fichte, 3 Abteilungen, 8 Bde, Bde 3 und 4: Zur Rechts- und Sittenlehre, aus Bd 3: Grundlage
des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796), Berlin 1845, S. 39;
Neuausgabe von Fritz Medicus, Leipzig 1922, S. 43 (= Philosophische Bibliothek, Bd 128 a).
Im Ganzen aber steht Fichte hier noch auf dem Boden der Kantischen Staatslehre. Vgl. dazu
Johann Gottlieb Fichte: Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, herausgegeben von Hans
Riehl, Teil 1: Reden an die deutsche Nation, besonders die Einleitung, S. 41 ff., Teil 2: Die
drei Schriften über den Gelehrten, Jena 1928 und 1929 (= Die Herdflamme, Bd 15).
2
Johann Gottlieb Fichte: Anweisungen zum seligen Leben (1806), neu herausgegeben
und eingeleitet von Fritz Medicus, 2. Aufl., Leipzig 1921 (= Philosophische Bibliothek, Bd
131 b).
3
Fichte: Reden an die deutsche Nation, Berlin 1807—08, vgl. die Ausgabe von Hans
Riehl.
4
Friedrich Wilhelm Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen
Studiums, Tübingen 1802; Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, ausgewählt von Manfred
Schröter, Jena 1926 (= Die Herdflamme, Bd 12).
5
Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, Teil 1:
Philosophie des Geistes und Rechtsphilosophie, ausgewählt von Alfred Baeumler, Jena 1927
(= Die Herdflamme, Bd 11). Uber Fichte, Schelling und Hegel siehe auch unten S. 261 ff.;
ferner mein Buch: Gesellschaftsphilosophie, München 1928, S. 34 ff.
6
Vgl. Franz von Baader: Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, herausgegeben von
Johannes Sauter, Jena 1925 (= Die Herdflamme, Bd 14).