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von ihrer Fülle, ihrer Freiheit, nichts von ihren schöpferischen Kräf-
ten verloren und auch das Unzulängliche wird verständlich. Der
ganze Ozean der Geschichte tut sich auf.
Das mögen uns einige Blicke in ihre Werkstatt veranschaulichen.
Solche geschichtliche Gründungen wie jene Karls des Großen,
Ottos des Großen haben in der Geschichte Jahrhunderte gedauert
und sich lange Zeit gesund entfaltet. Andere, wie jene Alexanders
des Großen, der ein auf schwieriger Kulturdurchdringung beruhen-
des Reich schaffen wollte (Kulturdurchdringungen sind sozusagen
Bruch und Heilung zugleich), oder jene Theodorichs des Großen,
der Ähnliches anstrebte, erlebten bald einen Mißerfolg, einen ver-
nichtenden Zusammenbruch. Verständlich! Denn das waren Brüche,
denen auf der alten Grundlage keine Neugründung (z. B. durch
Gegenbruch, Wiederherstellung, Rückschlag) folgen konnte, sondern
denen Gründungen auf ganz neuer Ebene folgen mußten, eben auf
jener Durchdringung von Völkern und Kulturen zu einem neuen
Ganzen.
Ähnlich sind alle Siedelungs- und Pflanzstaaten solche Neugrün-
dungen, die zum Teil auf Kulturdurchdringungen mit den Vorge-
fundenen Völkern beruhen, daher auch ihre Geschichte ein anderes
Bild zeigt als das alter Staaten.
Auch die G e i s t e s g e s c h i c h t e zeigt sich, nach den Begrif-
fen Gründung — Entfaltung betrachtet, in neuem Lichte. Das Chri-
stentum ist eine Stiftung, die gute, aber auch immer wieder fehler-
hafte Entfaltungen erlebte, sich jedoch durch Neugründungen in-
nerer Art (man denke an den Orden des heiligen Franziskus) oder
äußerer Art immer wieder behauptet und verjüngt. — Ähnlich die
Kunststile. Solange der romanische Stil in sich selbst durch stei-
gernde oder verflachende Entfaltungen bestehen bleibt, kann man
die verschiedenen Veränderungen immerhin als Erneuerungen in-
nerhalb des alten Rahmens betrachten. Sobald er aber durch den
gotischen Stil abgelöst wird, folgt eine Neugründung, die auf an-
deren Voraussetzungen beruht, durch die also die alte Stiftung
(wenigstens bis zu einem gewissen Grade) verlassen wird. — Sollen
die Brüche, so lehrt uns die Geistes- wie die Staatengeschichte, zu
guten Neugründungen führen, so dürfen sie niemals a l l e Vor-
aussetzungen der alten Gründung fallen lassen. Wenn sie das ver-
suchen, entsteht das Allzuprimitive, entsteht geradezu der Kunststil