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[208/209]

Sehen wir von all’ diesen Formen und auch von der aristoteli-

schen sowie scholastischen und mystischen Form der Dialektik —

der „Coincidentia oppositorum“ des N i c o l a u s v o n C u e s —

ab, so finden wir nach langem Zwischenraum die Dialektik erst wie-

der bei K a n t , nämlich in dem bekannten Dreischritte seiner Ka-

tegorientafel, der allerdings nur äußerlich bleibt.

F i c h t e machte das dialektische Verfahren in seiner „Grund-

lage der gesamten Wissenschaftslehre“ von 1794 zum ersten Male

zum ableitend-entwerfenden (konstruktiven) Grundsatze des Be-

griffsgebäudes der Philosophie, Fichte sagt dort

1

: „ ... das Entgegen-

gesetzte muß verbunden werden, s o l a n g e n o c h e t w a s

E n t g e g e n g e s e t z t e s i s t , b i s d i e a b s o l u t e E i n -

h e i t h e r v o r g e b r a c h t s e i “

2

.

S c h e l l i n g befreite dieses Verfahren von den Eierschalen des

Subjektivismus, die ihm noch anhaften mochten, indem er es in sei-

ner „Naturphilosophie“ und in seinem „System des transzenden-

talen Idealismus“

3

zu gegenständlicher „immanenter Dialektik“ fort-

bildete. Nicht das Ich, sondern das Absolute ist es nun, was durch

alle Veränderungen hindurch sich behauptet. Dadurch tritt zugleich

der Gedanke der I d e n t i t ä t der Gegensätze im Absoluten

(schon vorher im setzenden „Ich“ Fichtes) besonders hervor (Iden-

titätsphilosophie).

/

Die reinste Ausbildung erhielt das dialektische Verfahren in

H e g e l s Lehrgebäude, wo es zum alleinigen aufbauenden Grund-

satze und ferner ein rein ontologisches Verfahren wurde, das in kei-

ner Weise mehr vom „Ich“, sondern vom Sein schlechthin ausgeht.

Die dialektischen Schritte: Setzung, Gegensetzung, Ineinssetzung

(Thesis, Antithesis, Synthesis) werden nicht nur als Gegensätze, son-

dern auch als „Ansichsein“, „Fürsichsein“, „An und für sich Sein“

bestimmt, wonach die jeweils folgenden späteren Setzungen die

früheren Setzungen in sich aufnehmen, und, wie bei Schelling, durch

1

Johann Gottlieb Fichte: Sämtliche Werke, 8 Bände, Berlin 1845—46, Bd 1,

S. 115.

2

Von mir gesperrt.

3

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Erster Entwurf eines Systems der Natur-

philosophie (1799); System des transzendentalen Idealismus (1800), beide in:

Sämtliche Werke, Stuttgart 1856—1861.