XVII.
Dialektisches und ganzheitliches Verfahren
in ihrer systemgestaltenden Bedeutung
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A.
Die Hauptformen des dialektischen Verfahrens
Das äußerliche Merkmal des dialektischen Verfahrens ist, daß
Gegensätze das Seiende bestimmen und daß ferner diese Gegensätze
doch wieder in irgendeiner Weise vereinigt seien.
Das dialektische Verfahren wurde bekanntlich in nicht wenigen
Fassungen ausgebildet. Schon die Lehre der P y t h a g o r e e r war,
insofern sie Begrenztes und Unbegrenztes, Eines und Vieles und
andere Gegensätze unterschied, dialektisch. Noch mehr war dies die
Gegensatzlehre P l a t o n s , wie sie sich anfangs in der allgemeinen
Form der Untersuchung durch „Unterredung“ im sokratischen Sinne
darstellte (denn Unterredung ist durch Einwände, Gegensätze be-
zeichnet) und später im „Philebos“ (jteQas-obtEiQov) ontologische
Gestalt annahm. Im „Sophistes“ (250 a ff.) wird die Seele (das
Seiende, die Idee) als die Einheit der dialektischen Gegensätze, näm-
lich der Gegensätze von Stillstand (Einerleiheit) und Bewegung
(Veränderung, Anderheit) erklärt, diese Einheit selber wieder als
„Vermögen“ (274e ff., 251b ff.); ferner wird im „Sophistes“ (253e ff.)
wie im „Staatsmann“ die Dialektik als Lehre von der Teilung der
Begriffe in gegensätzlichen Zweischritten in verfahrenmäßiger Ge-
stalt entwickelt (Diairesislehre).
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Zuerst erschienen in: Blätter für deutsche Philosophie, Bd 4, Berlin 1930,
S. 169 ff.