[5/6]
9
Einer der Hauptgedanken, die ich hier vertreten muß, ist: daß
es unbedingt nötig ist, dem geschlossenen Gedankengebäude des
Individualismus ein anderes, ebenso geschlossenes Gedankengebäude
des Anti-Individualismus entgegenzustellen, und daß anders der
endgültige Sieg nicht erfochten werden könne! Das halten nun
wohl viele unter Ihnen nicht für nötig, da sie bisher aus Instinkt
und Eingebung handelten und mit den aus unmittelbaren Impulsen
des Staats- und Wirtschaftslebens geschöpften Taten große Erfolge
erzielten.
Richtig, aber ich behaupte: Auf die Dauer kann es nicht dabei
bleiben, auf die Dauer müßten bei der bisherigen reinen Tat-Ein-
stellung Mißerfolge / und Rückschläge eintreten. Schon allein des-
wegen, w e i l d e r l i b e r a l e u n d m a r x i s t i s c h e G e g n e r
t h e o r e t i s c h w o h l g e r ü s t e t d a s t e h t !
Ich habe die Ehre, in einem Lande zu sein, wo der erste p o l i -
t i s c h e Vorstoß gegen den Individualismus gemacht wurde. Aber
es zeugt von der Verteilung der weltgeschichtlichen Aufgaben der
Völker ebenso wie von einer gewissen Ergänzung italienischer und
deutscher Kultur, daß der erste g e i s t i g e Vorstoß von der deut-
schen Wissenschaft gemacht wurde. Schon im Jahre 1920 habe ich
in meinen Vorlesungen an der Wiener Universität das Bild eines
w a h r e n S t a a t e s theoretisch gezeichnet, eines Staates, der nicht
individualistisch, nicht demokratisch, nicht auf politische Parteien
aufgebaut und in der Wirtschaft nicht liberal-kapitalistisch ist. Daß
eine umfassende theoretische Begründung eines solchen Staates nötig
ist, wird heute auch in einem solchen Lande, wie Italien es ist, nicht
mehr bezweifelt werden, wo zwar die praktische Tat zuerst ohne
alle Theorie, nämlich aus unmittelbarer politischer Notwendigkeit,
erfolgte; wo aber doch immer mehr die Aufgaben des weiteren Aus-
baues zeigen, wie unentbehrlich theoretische Grundsätze sind.
W e n n e s w i r k l i c h d i e g e s c h i c h t l i c h e A u f g a b e
d e s J a h r h u n d e r t s i s t , d e n I n d i v i d u a l i s m u s u n d
M a r x i s m u s z u v e r n i c h t e n , d a n n m u ß I d e e g e -
g e n I d e e s t e h e n . Die Entwicklung grundlegender Lehrbe-
griffe ist daher unbedingte Notwendigkeit. Dies wird ja auch heute
in der italienischen Staatslehre zum Teil schon erkannt, wofür der
Name Costamagna Zeugnis gibt.