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sinnfällige Welt ist also nicht Sein von sich selbst (ens a se), sondern

notwendig Sein von anderem Sein (ens ab alio) und dieses ist lautere

Wirklichkeit. Die lautere Wirklichkeit allein leitet sich begriffs-

gemäß von keiner anderen mehr ab, nur sie ist Sein aus sich selbst

(ens a se). Das Mögliche setzt Notwendiges voraus; das aus sich

selbst Notwendige aber ist lautere Wirklichkeit. „Possibile vel

contingens praesupponit necessarium; necesse est ponere aliquid

quod est per se necessarium et hoc est actus purus.“

1

Diese Gedanken sind nicht nur in den aristotelischen Schulen zu finden, sondern

auch im deutschen Idealismus. In S c h e l l i n g s Lehre von der „Natur in Gott“

ist der Vorrang des Wirklichen vor dem Möglichen sogar in der Gottheit

behauptet

2

. (Trennung des Was und des Daß. Vorrang des Daß oder der

Wirklichkeit.)

Kehren wir zu Aristoteles zurück, so ergibt sich, daß seine oben

angeführten Beispiele und Sätze, je für sich genommen, unzweifel-

haft eingeräumt werden müssen. Der wirkliche Mensch ist unent-

behrlich dafür, daß weitere Menschen entstehen. Ohne schon vor-

handene Menschen könnte ein Mensch, wenn er selbst in der platoni-

schen Ideenwelt bestünde, nicht erscheinen. Ebenso müssen schon

wirkliche Pflanzen blühen und fruchten, damit neue entstehen.

Selbst in der anorganischen Welt ist es nicht anders. „Feuer“ ent-

steht nur durch wirkliches Feuer, bzw. / Wärme, die das bloß Oxy-

dierbare (das mögliche Feuer) zum wirklichen Feuer macht. Auch im

geistigen Leben finden wir, daß der Gedanke zu seiner Entfaltung

schon andere, wirkliche Gedanken voraussetzt, im Lernenden muß

schon irgendein Wissen da sein, an das angeknüpft werden kann,

usw. Mag dieses alles auch in noch so langsamer Entwicklung (siehe

Kindespsychologie oder Geschichte!) gedacht werden, sinnfällig

Wirkliches zeigt sich überall als die Voraussetzung für jedes neue

Werden. Nichts in der irdischen Welt entspringt wie Athene ge-

wappnet aus dem Haupte des Zeus, alles muß seine Wirklichkeit an

einem schon Wirklichen erst entzünden.

Auch der Vorrang Gottes vor der Welt, zu dem der aristotelische

Gedankengang führt, gilt unwiderleglich. Denn das muß notwendig

jedermann einräumen: soll die Weltschöpfung überhaupt gedacht

1

Thomas von Aquino: Summa theologica, I, quaestio 2 a, 3.

2

Schelling: Sämtliche Werke, Abt. 2, Bd 1, Stuttgart 1856, S. 586 ft.