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3.

Die Erweckung neuer Kräfte durch Spannungen

Die Kräfte weckenden Auswirkungen der Spannungen reichen

im allgemeinen so weit, als sie Gegenspannungen sind, heilende,

wiederherstellende und dem Hemmenden entgegentretende Span-

nungen (Analepsis der Spannungen). Da sich jeder Bruch in der

Geschichte als Gegenbruch gibt, und es auch ist, so haben alle Span-

nungen gleichzeitig die Eigenschaft von G e g e n s p a n n u n g e n .

Welchen geschichtlichen Weg die großen Spannungen nehmen,

das sieht zwar niemand voraus, weil ihre Erweckung schon ein

Sprung ins Dunkle ist; aber im Hinblick auf die Kräfte, die sie

wecken, gilt, daß sie sich nach den Brüchen richten, aus denen sie

hervorgehen. Diesen Brüchen gemäß stellen nämlich die Spannun-

gen ihre A u f g a b e n . Hiervon im einzelnen zu sprechen, würde

zu weit führen.

Allgemeine Spannungen haben oft das Letzte an Kraft herausgeholt, was

ein Volk aufzubringen vermag. Was die französische Revolution an Begeiste-

rung und Kraftaufwand zuerst in Frankreich hervorgebracht, dann als Gegen-

schlag 1809 und 1813 in Deutschland, ging über alle Begriffe. — Ähnlich die

schon genannten wirtschaftlichen Gründerenergien nach liberalen Umstürzen.

In Frankreich sind diese wirtschaftlichen Gründerenergien etwa nach 1870 ver-

sickert (wohl hauptsächlich infolge des Bevölkerungsstillstandes), in Deutsch-

land bis zum Wahnsinn, bis ins Unholdentum angewachsen.

Und noch eine andere Erscheinung sei hervorgehoben. Je höher solche

Spannungen ansteigen, um so mehr tritt das Mittelmäßige zurück. In der

berühmten Nacht vom 4. August 1789 verzichtete der Adel in edler Begeiste-

rung freiwillig ohne Entgelt auf sämtliche Vorrechte. Das waren Steigerungen

der politischen und sittlichen Spannung, die alles übertrafen. Es will etwas

besagen, daß in solchen Zeiten sogar die Habsucht zurücktritt. Aber am Ende

der Umstürze, wenn die Spannungen gelöst sind, behält das Gemeine wieder

das Wort. Im Schoße der Revolutionen birgt sich die Habsucht. Gehen sie dem

Ende zu, dann ändert sich das Bild. Nur in den höchsten, glücklichsten Span-

nungszuständen der Geschichte vermag das Mittelmäßige und Niederträchtige

verdrängt zu werden. Im / Augenblicke der Erschöpfung tritt es wieder her-

vor. Daß dieses am Grunde des Menschlichen liegt, deutet nur allzu wahr

Goethe an:

„Ubers Niederträchtige

Niemand sich beklage!

Denn es ist das Mächtige,

Was man dir auch sage.“

1

Die Erweckung von Kräften durch Spannungen wird uns auch in den folgen-

den Abschnitten noch beschäftigen.

1

Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Diwan, V. Rendsch Nameh —

Buch des Unmuts, 11. Wanderers Gemütsruhe.

13

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