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wenn Gott ein Zeitalter ohne große religiöse Begabung läßt, zieht
er sich von ihm zurück.
Die großen Religionsstifter, die großen mystischen Führer und
Heiligen, die großen Theologen und metaphysischen Philosophen,
das sind die Träger solcher Begabungen. Denken wir an Laotse,
Kungfutse, Zarathustra, Moses, vielleicht auch an Echnaton, jeden-
falls an Buddha und Mohammed, ferner an den altindischen
Yajnavalkya, an den Verfasser der Bhagavadgita, an den Tibeter
Milarepa, endlich an Platon, Plotin, Meister Eckehart, Luther, dann
haben wir die bedeutendsten Beispiele erweckter Begabungen.
Wir erkennen auch, daß die Begabungen dieser Großen nicht
gleich groß, auch nicht von durchaus gleicher Art waren. Und schon
allein hieraus müssen wir entnehmen, daß die Offenbarungen in
der Religionsgeschichte miteinander nicht ohneweiters übereinzu-
stimmen vermögen.
Und dasselbe Bild zeigen die h e i l i g e n S c h r i f t e n der
Menschheit: das Avesta der Perser, die Veden mit den Upanischa-
den der alten Inder, die kanonischen Bücher Li und Schu der Chi-
nesen mit den Werken Laotses und Kungfutses, der Tipitaka (Pali-
Kanon) der Buddhisten, das Alte Testament der Juden, der Koran
der Mohammedaner, auch die ältere Edda der Nordgermanen, end-
lich die Krone aller, das Neue Testament — alle diese großen heili-
gen Urkunden der Religionen haben etwas G e h e i m n i s v o l -
l e s in sich, mehr als die größte Gelehrsamkeit und selbst die hohe
Mystik aufzulösen vermögen. Ja, zu dem Geheimnisvollen gehört
auch ihre (mindestens relative) Nichtübereinstimmung.
Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn wir die K u n s t als ein bil-
dendes und aufbauendes Element der Religion, besonders im Kul-
tus, mit in Betracht ziehen: Denn nicht nur die großen Religions-
stifter, Heiligen, Theologen und Philosophen, auch die als religiöse
Versinnbildner und Darsteller auftretenden Künstler gehören zu
den erweckten Begabungen der Religionsgeschichte! Man braucht
nur an den Zeus des Pheidias und die Akropolis in / Griechenland,
an die indischen und dann wieder an die ägyptischen Tempel, Pyra-
miden, Obelisken, an die Erbauer gotischer Dome im Mittelalter, an
Matthias Grünewald, Michelangelo, Raffael zu denken: ferner an
die religiösen Musikwerke von Palestrina, Bach, Gluck, Haendel,
Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner — um überall auch