Table of Contents Table of Contents
Previous Page  1967 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 1967 / 9133 Next Page
Page Background

[480/481]

571

d i e d a h i n t e r s t e h t . Der Widerstreit der Volkheiten erhält

damit ein ähnliches Gesicht wie der Streit verschiedener Theorien

in der Wissenschaft, verschiedener Schulen in der Kunst, Wissen-

schaft, Religion.

So betrachtet, liegt die Wahrheit im geistigen Kampf der Natio-

nen nirgends anders, als wo sie auch im Kampfe der Meinungen

liegt, wo sie in Wissenschaft, Philosophie, Kunst und Sittlichkeit

an sich liegt — das übersieht der Kosmopolitismus und Internatio-

nalismus. Er ist daher sentimental, aber nicht wahr, nicht wahrhaf-

tig. Er sieht der Tatsache, daß es genauso wie gute und schlechte An-

sichten auch / höher- und minderwertige Nationen und Kulturen

gibt, nicht ehrlich ins Gesicht.

Das bestätigt auch der flüchtigste Blick auf die großen weltgeschichtlichen

Gegensätze der Völker. Der Gegensatz zwischen römischem und griechischem

Wesen im Altertum, englisch-französischem und deutschem Wesen von heute

ist im Grunde kein anderer als der zwischen Empirismus und Idealismus. Der

Grundzug indischen, griechischen, deutschen Wesens war rein idealisch. Die

Slawen sodann teilen diesen Zug, sofern auch sie durchaus nicht auf empiristi-

scher Seite sind. Gewiß lebt in ihnen ein auf das Metaphysische, auf das Inner-

liche in der Welt gerichteter Sinn. Das beweist das zahlreiche, zersplitterte

Sektenwesen in Rußland, das beweist die ganze Artung des russischen Schrift-

tums und zuletzt Tolstois Prophetentum. Aber ganz anders zeigt sich die sla-

wische Natur im Handeln. Dem Osten scheint in diesem Punkte von dem Syllo-

gismus der nordischen Rasse etwas zu fehlen. Geringe Fähigkeit, in zielbewuß-

tem Ausdauern eine Aufgabe zu vollbringen, tritt hier oft hervor. „Gestalten-

fülle ohne Gestaltungskraft“ scheint slawisches Wesen in seinen Vor- und Nach-

teilen vor anderem zu bezeichnen, wenn man die typischen Gestalten nicht nur

des slawischen Schrifttums (man erinnere sich an Dostojewskis und Weressajews

Romane, Andrejews, Korolenkos, Bunyins, Tschechows Novellen und Skizzen,

Gorkijs Nachtasyl), sondern auch der russischen Geschichte ins Auge gefaßt. Ja

die Geschichte scheint zu zeigen, daß die Slawen ohne fremde Hilfe kaum einen

Staat schaffen konnten. Dieser Schwäche scheint grundsätzlich die Despotie als

Staatsform zu entsprechen (denn Schwache müssen streng regiert werden). Un-

haltbar ist es daher, Rußland als das um 200 Jahre jüngere Europa aufzufassen.

Vielmehr bilden (trotz des wunderbaren metaphysischen Grundzuges, nament-

lich im Russentum) die Neigung des Slawentums zum Despotischen, der Zug

zur Apathie und zur Melancholie organische Entsprechungen; ebenso wie der

krankhafte Ehrgeiz dieser Gebrochenheit entspricht und in der bekannten rus-

sischen „Prestige“-Politik vor dem Krieg seinen Ausdruck fand. Das Bolschewi-

kentum paßt in gewisser Weise zu diesen Zügen. — (Von dieser Kennzeichnung

sind die Tschechen, die aus dem slawischen Rahmen herausfallen und doch auch

zum Germanentum nicht vordrangen, auszunehmen.)

Unserem Begriff des Volkstums entspricht es auch, daß jede

volkstumspolitische Bewegung, von der die Geschichte meldet, das

Gepräge einer Kulturbewegung hatte; und zwar sowohl, wenn sie