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anderes als: der Inbegriff jener Regeln, nach welchen die Freiheit

des einen durch die Freiheit des anderen möglichst wenig einge-

schränkt wird. Das Recht, so kann man sagen, ist daher ein Inbegriff

technologischer Regeln des Zusammenlebens. Zum Beispiel faßt

darnach die Vorschrift „Rechts über die Brücke gehen“ nichts ande-

res in sich als den Entschluß, auf eine kleine Freiheit, zum Beispiel

je nach Laune, rechts oder links zu gehen, zu verzichten, um die

größere Freiheit desto sicherer zu behalten, zum Beispiel sicher zu

sein, daß durch den glatten Verkehr in einer Richtung kein lebens-

gefährliches Gedränge entsteht, Rippenstöße und dergleichen ver-

mieden werden. Auch das Gesetz, nicht zu stehlen, nicht zu rauben,

nicht zu töten, rechtfertigt sich durch solche Zweckmäßigkeit der

äußeren Gestalt des Zusammenlebens. (Wenn es überdies von der

Religion aus sich ergibt, um so besser, das ist aber für die Gesell-

schaftslehre an sich selbst nicht maßgebend.)

Durch diese äußerlich-werkzeugliche oder utilitarische Fassung

des Rechtsbegriffes ist auch die grundsätzliche Entgegenstellung

gegen / die Sittlichkeit entstanden, die sogenannte „Heteronomie“

des Rechtes, der die „Autonomie“ der Sittlichkeit gegenüberstehen

soll

1

. — Ferner ist aus dem Gesagten auch der Grundsatz „laissez

faire, laissez passer, le monde va de lui-meme“, begreiflich, denn

er gilt nicht nur für die Wirtschaft (Wirtschaftsfreiheit) und für

den Staat (Mindestmaß der Staatsaufgaben, Höchstmaß der Frei-

heitsrechte der Bürger), sondern entsprechend auch für die Rechts-

bildung (Drang, alles in Vertragsrecht aufzulösen, in Freiheitsrechte

der Bürger).

Von dieser Bestimmung des individualistischen Rechtsbegriffes her versteht

man das g e s a m t e n e u e r e S c h r i f t t u m , das, den reinen Grundsätzen

des individualistischen Naturrechts schamhaft entfremdet, sich doch nur in ver-

schiedenen Abwandlungen eben dieses einzigen für es erreichbaren Rechtsbegriffes

gefällt. Wenn wir in der n a t u r a l i s t i s c h e n S o z i o l o g i e z. B. bei

Schäffle das Recht als „Streitordnung im Kampfe ums Dasein“

2

bestimmt fin-

den, so haben wir in darwinistischer Einkleidung („Kampf ums Dasein“) nichts

anderes als das individualistische Naturrecht. Eben dasselbe ist der Fall, wenn

I h e r i n g das Recht im Sinne eines „sozialen Utilitarismus“ bestimmt: „Recht

ist das System der durch Zwang gesicherten sozialen Zwecke.“

3

Ebenso verhält

1

Darüber mehr unten S. 582 f.

2

Albert Schäffle: Bau und Leben des sozialen Körpers, 2 Bde, Bd 1: Allge-

meine Soziologie, Tübingen 1896, S. 234 ff.

3

Rudolf von Ihering: Der Zweck im Rechte, 2 Bde, Bd 1, Leipzig 1877,

S. 240 [4. Aufl., Leipzig 1905].