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Einerseits verkleinerte sich der Abstand des Menschen zu Gott,
insofern der Mensch erhöht und vergottet wurde; andererseits ver-
größerte er sich, insofern nicht mehr jede einzelne Sondergottheit
um alle möglichen Sondergaben, auch um Rache, in höchst mensch-
licher Weise angerufen werden konnte. Vielmehr gebietet nun schon
das neue Verhältnis zu Gott dem Menschen in sittlicher Hinsicht
wie um Vergebung der Sünden zu bitten, so auch selbst dem andern
zu vergeben. Alle Nachahmung von Tiergöttern, aller Dämonismus,
aller Satanismus war damit vernichtet, alle damit verbundene Ver-
kehrtheit, alle Rache und Blutrache ohne Ende verneint — eine Er-
rungenschaft von unendlicher Bedeutung!
Im Christentum nimmt die Seele, je inniger sie sich Gott nähert,
um so mehr eine w e l t ü b e r l e g e n e Haltung an — wodurch
aber auch das Verhältnis der Menschen untereinander umgestaltet
wird. Diese Umgestaltung konnte freilich geschichtlich nicht mit
einem Schlag erfolgen, da sie erst von einer inneren Umwandlung der
Menschen selbst ausgehen mußte und erst auf diesem neuen Grund
wahrhaften Bestand zu erhalten vermochte.
Die wiederholt berührte Abschaffung der blutigen Opfer, Tier-
und Dämonendienste hatte daher nicht nur Bedeutung für den Kul-
tus, sondern begründete zugleich eine veränderte Lebenshaltung.
Als Folge der neuen Liebesgesinnung ergab sich auch die Teilnahme
breiter Schichten an höheren geistigen Gemeinschaften, an den Gü-
tern h ö h e r e r B i l d u n g , als deren Grundlage nicht die halb-
materialistische Stoa, sondern das antike Geistesgut in seinen höch-
sten Vertretern, Platon, Aristoteles und die Mystik / des Neuplato-
nismus betrachtet wurde — ein überaus wichtiger Punkt, weil er die
Weltoffenheit, den hohen philosophischen Flug und sozusagen den
Bildungshunger der neuen Religion beweist, im Gegensatz zu der
finsteren Selbstabschließung und Tabuierung des alten Judentums
sowie aller totemistisch gebundenen Gruppen heidnischer Völker
(unter anderem besonders der Ägypter).
Mit diesen Früchten der neuen Religiosität waren aber noch an-
dere gegeben, vor allem die H o c h s c h ä t z u n g d e r A r b e i t ,
auch der körperlichen, was noch mehr als vom wirtschaftlichen, vom
allgemein sittlichen Standpunkt aus beurteilt sein will. Arbeit war
dem Christentum eine sittliche Verpflichtung, begründet im Schöp-
fungswillen Gottes.