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verspüren, Erlebnisgenossen, Zeitgenossen, sie alle werden in den Gang des
geschichtlichen Schicksals hineingerissen. Alle Altersschichten jener Tage bilden
darum eine E r l e b n i s g e m e i n s c h a f t , eine „Zeitgenossenschaft“. In Wahr-
heit sehen wir denn auch nicht nur das Alter, sondern ebenso die Jugend in
die geistigen Bewegungen, die aus den neuen Ereignissen und Fortbildungen des
Ideengutes entstehen, hineingerissen. 1813 beendet der blutjunge Eichendorff
seinen Roman „Ahnung und Gegenwart“, während seine persönlichen Lehrer
Görres (in Heidelberg), Schlegel und Adam Müller (in Wien) gereifte Männer
sind. Was der Jenenser Kreis 1798 schuf, nahm auch er auf, da er ebenso wie
jene älteren Männer unter dem Eindrucke der Französischen Revolution und der
Napoleonischen Kriege lebte.
Und erfahren wir denn heute nicht das gleiche? Sowohl Alter wie Jugend
sieht sich aufgefordert, die fressenden Schäden der Zeit, die sich geistig in Bol-
schewismus und Kulturverfall aller Art, politisch in der Niederwerfung der deut-
schen Volkheit zeigen, zu heilen, in Heldentum und Durchdringung des Lebens
mit den Mächten des Übersinnlichen wieder den Weg aus dem Verderben zu
bahnen.
Insofern Alter wie Jugend sich gleichermaßen den geistigen und geschicht-
lichen Aufforderungen der Zeit gegenüber sehen, scheint es richtiger, von Er-
lebnisgemeinschaften, von Zeitgenossenschaften und Ereignisgenossenschaften zu
reden als von Geschlechterfolgen. Leibniz und Kant sahen sich den Aufforderun-
gen der Zeit, dem Empirismus entgegenzutreten, gegenüber, von Altersjahren ist
dabei nicht die Rede. — Schelling, das Wunderkind, ergriff die seine in jüngsten
Jahren. — Kant war sehr alt, ehe er diese Aufforderung ergriff. — Sturm und Drang,
Klassik, Romantik sind ebenfalls keine reine Frage der Altersfolge, wenn auch
allerdings die Jugend vor allem bereit und berufen ist, die Aufforderungen der Zeit
zu ergreifen. Auch hier hilft der Vorrangbegriff aus. Den V o r r a n g v o r
d e r r e i n z e i t l i c h e n G e s c h l e c h t e r f o l g e h a t s t e t s d e r
I d e e n z u s a m m e n h a n g , d i e g e i s t i g e A u f g a b e n f o l g e . Vor der
rein zeitlichen Abfolge der geschichtlichen Ereignisse steht ihr innerer, ganzheit-
licher Zusammenhang. Aus diesen geistigen und geschichtlichen Zusammenhängen
heraus ergeben sich dann auch primär die Kategorien der „N a c h f a h r e n “
(Epigonen), des „V e r f a
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e s“ und der „ B a h n b r e c h e r“. Doch ist hier
nicht der Ort, in Fragen einzugehen, die schon der Geschichtsphilosophie ange-
hören.
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II. Der Gegensatz individualistischer und universalistischer
Auffassung in der Erziehung
Auch im Begriffe der Erziehung ist der Gegensatz individualisti-
scher und universalistischer Auffassung entscheidend.
Nach individualistischer Auffassung erscheint, folgerecht gefaßt,
Erziehung als reine Selbsterziehung des Einzelnen. Die Aufgabe des
Erziehers liegt lediglich im Gewährenlassen der kindlichen Natur
(Rousseau); in der Beseitigung von Störungen und Hindernissen;
und im Unterricht. Auch die Werte, auf welche die Erziehung hin-
steuert, sind dann selbstbestimmte.