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b i l d u n g u n d E r n e u e r u n g des jeweils herrschenden
Ideengehaltes, des Zeitgeistes einer Gesellschaft. Damit haben wir
die wichtige Erscheinung der G e s c h l e c h t e r f o l g e o d e r
A l t e r s f o l g e (Generationenfolge), ohne die ein G a n g d e r
G e s c h i c h t e nicht möglich wäre. Der herrschende Bildungs-
inhalt oder Zeitgeist einer geschichtlichen Gesellschaft ist niemals
so einheitlich, daß das neu herangebildete Geschlecht in ihn einfach
eingefügt werden könnte, sondern dieses kann an verschiedene Ge-
dankenkreise anknüpfen und die Gründe der Eingliederung in den
Geist- und Ideengehalt einer Zeit fortbilden. Diese Grundtatsache
bildet den Gegenstand der G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e .
In beiden Fällen, jenem der bloßen Einfügung in das Gegebene
und der Umbildung des Gegebenen, ist die Erziehung in geschicht-
licher Ansicht gefaßt, die dem Wechsel der Dinge und ihrem ewig
erneuten Antlitz gerecht wird. Dieser geschichtlichen Ansicht steht
aber das reine Ideal der Erziehung gegenüber, die E r z i e h u n g
z u r W e i s h e i t , die nicht in ihrer wechselnden Auswirkung
nach Zeit und Raum, sondern als Inbegriff ewig gültiger, in sich
selbst ruhender Wahrheit gefaßt wird.
Als gesellschaftlicher Widerschein der Weisheit ergibt sich dann
das I d e a l d e r B i l d u n g . Dieses Verhältnis kennzeichnet
Willmann: „Die Weisheit ist älter und ehrwürdiger als die Paideia
und insofern ist der Gebildete ein Epigone des Weisen, aber er ist
zugleich dessen Vervielfältigung; das Vorrecht Hochbegabter wird
Gemeingut eines Kreises, das geistige Leben rückt von den Höhen in
die Niederung herab.“
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Der B e g r i f f d e r G e s c h l e c h t e r f o l g e (Generationenfolge), der
sich bereits bei Ranke und Adam Müller findet, darf nicht mechanisch und natu-
rali- / stisch gefaßt, er darf auch nicht überschätzt werden, wie es heutzutage ge-
schieht. Die Schwierigkeiten einer rein biologischen und naturalistischen Fas-
sung liegen zuerst darin, daß stets, daß zu jeder Zeit eine neue Geschlechterfolge
entsteht und nicht etwa alle dreißig Jahre, also eine Einteilung der Geschichte
nach Geschlechterfolgen nicht möglich ist. Sodann äußern sich die Schwierig-
keiten darin, daß die großen geschichtlichen Ereignisse, welche die Geister auf-
regen und zu gemeinsamen Schicksalen verbinden, nicht nur die Jugend, sondern
auch das Alter, nicht nur die augenblicklich gereiften Geister, sondern auch die
heranreifenden und in jene Zeitereignisse erst hineinwachsenden Menschen er-
greifen. Während der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege
sind alle damals Lebenden und Heranreifenden, die noch lebendige Folgen davon
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Otto Willmann: Philosophische Propädeutik, Bd 2: Empirische Psychologie,
3. Aufl., Freiburg i. B. 1914, S. 161.