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rei genug zu treiben; aber Eduard Mörike hat es als Zweifelsfrage

machtvoll zum Ausdruck gebracht:

„Kann auch ein Mensch des andern auf der Erde Ganz, wie er

möchte, sein?

In langer Nacht bedacht ich mir’s und mußte sagen, nein!

— So kann ich niemands heißen auf der Erde,

Und niemand wäre mein?“

Ein Gefühl des in sich Beruhens, eines einsamen inneren Menschen in

uns ist die stärkste subjektive Stütze des Individualismus. Von der düstern

Seite her hat Nikolaus Lenau dasselbe Gefühl in seinem Gedicht

„Täuschung“ ausgedrückt, wo Strom, Donner, Kauz und Wind in banger

Nacht klagen:

/

„Einsame Klagen sind’s weiß keine von der andern,

Wenn sie zusammen auch im wilden Chore wandern.

Drum ist die Erde ja ums Paradies betrogen,

Daß ihre Luft ertönt von dunklen Monologen .. .

Trotz allem Freundeswort und Mitgefühlsgebärden,

Bleibt jeder tiefe Schmerz ein Eremit auf Erden.“

Auf welche Weise nach individualistischer Vorstellung solches inneres

Alleinbleiben und jedwede geistige Selbstwüchsigkeit auch im geistigen

Verkehr mit andern bewahrt werden könne, läßt sich am Beispiel des

Schachspielers wie des Schauspielers klarmachen.

Der Schachspieler hat einen Gegenspieler, aber eigentlich geht ihn dieser geistig nichts

an. Der Schachspieler hat ein bestimmtes Problem zu lösen, das jeweils in der Stellung der

Schachfiguren gegeben ist. Der Gegner ist lediglich eine hinter diesen Figuren gleichsam

mechanisch, äußerlich wirkende Ursache, nicht aber etwas Geistiges, das den Spieler in

seiner Geistigkeit beeinflussen könnte. Der Gegenspieler steht mir gleichsam nicht als

innerer Mensch, sondern lediglich als figurenschiebende Außenkraft gegenüber. Wenn er

gut spielt, dann ist die Figurenstellung so geordnet, daß ich schwierige, wenn er schlecht

spielt, so, daß ich leichte Aufgaben zu lösen habe. Gehe ich einen steilen Berg hinan, dann

muß ich viele, gehe ich einen sanften, wenig Kräfte einsetzen. So der Individualist.

Ein ähnliches Beispiel bietet wohl auch der Schauspieler mit seinen Gegenspielern. Jeder

bleibt das, was er schon ist, er spielt gleichsam eine fertige Rolle (sich selbst) herunter. Als

Karl Moor z. B. tritt er mit bestimmtem Charakter auf, der durchaus er selbst, selbstwüchsig,

ist. Die anderen Menschen, als Gegenspieler, bedeuten ihm nicht mehr denn mechanische

Gegenkräfte oder Lederpuppen. Er spielt sich selbst, das heißt, er geht das Verhältnis zu

anderen so ein, daß er stets aus dem eigenen Wesen, stets aus der Tiefe und Fülle seiner

eigensten Natur schöpft, ähnlich wie er sich gegen Sturm und Wetter wehren, entfalten

muß; innerlich empfängt er von den andern nichts. Genau entsprechend Franz Moor, er folgt

seiner Natur, es macht ihm Freude, in der Welt das Böse