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gende Bedeutung erlangt sie darum für jene Zeiträume der Ge-

schichte, in denen die Gesellschaft zerrüttet ist und alte Bindungen

in großem Maße zur Auflösung gelangen. Das neunzehnte Jahrhun-

dert ist bekanntlich wie kein anderes das Jahrhundert des Indivi-

dualismus, der Entgliederung uralter Gemeinschaften, daher das

klassische Jahrhundert der Auslaugungen und Anhäufungen.

Die Auslaugungen und Anhäufungen vollziehen sich in allen

Bereichen der Gesellschaft. Sie lassen sich daher am einfachsten nach

der A u s g l i e d e - / r u n g s - u n d U m g l i e d e r u n g s o r d -

n u n g d e r G e s e l l s c h a f t

1

bestimmen. Sie unterliegen auch

den Vorranggesetzen dieser Ordnungen. Demgemäß unterscheiden

wir die Auslaugungen auf dem Gebiete des Geistes und des Han-

delns.

1. Die g e i s t i g e n A u s l a u g u n g e n

Sie vollziehen sich zwischen allen geistigen Teilganzen: zwischen

Religionen, wissenschaftlichen Richtungen, Kunstschulen, Sinnlich-

keitsauffassungen, Sittlichkeitsauffassungen; ferner zwischen den

Stufen: Kulturen, Volkstümern, Stämmen.

Aber die geistigen Auslaugungen gehen nur mittelbar vor sich!

Sie werden nämlich vermittelt durch die betreffenden anstaltlichen

(organisatorischen) Gebilde. Zum Beispiel ist die Auslaugung von

Religionen unmittelbar nur eine solche der Kirchen, die Auslaugung

der Wissenschafts- und Kunstschulen unmittelbar eine solche der

Wissenschafts- und Kunstorganisationen (und wären es auch nur

Konzert- und Theateragenturen, Schauspielhaus- oder Verlegerbe-

triebe). — Die Auslaugung der Sittlichkeits- und Rechtsauffassungen

geschieht ebenfalls unmittelbar nur durch die betreffenden Anstal-

ten (Organisationen) hindurch, also namentlich des Staates und der

größeren ständischen Gebilde, wodurch also mittelbar das Rechts-

leben von bestimmten persönlichen Trägern ausgelaugt oder mit

ihnen bereichert wird.

Die grundsätzlichen Vorgänge, welche sich dabei abspielen, sind

an den bisherigen Beispielen schon klar geworden und brauchen

hier nicht nochmals erörtert zu werden.

1

Vgl. meine Bücher: Gesellschaftslehre (1914), 3. Aufl., Leipzig 1930, S. 251 ff.

[4. Aufl., Graz 1969, S. 303 ff.]; Geschichtsphilosophie, Jena 1932, S. 123 ff.