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Materie setzt, kann nicht Geist noch Leben sein, denn gerade dann

könnte es sich nicht verräumlichen; es nimmt aber Ausdehnung,

Schwere, Bewegung (die selbst nur aktive Ausdehnung ist) und alle

jene anderen Zuständlichkeiten an, wie sie die Physik und Chemie

uns lehren.

/

Die vorstofflichen Anfänge (die immateriellen Wurzeln) der Materie „K r a f t“

zu nennen, erscheint bei dem mechanischen Sinne, den dieses Wort heute ange-

nommen hat, nicht zweckmäßig. Eher möchte der Ausdruck „H a l t u n g“,

έξις‘ ‘

habitus, den das Altertum dafür gebrauchte

1

, wegen der festen Beständigkeit der

Natur richtig sein; oder auch der Ausdruck i n n e r e S p a n n u n g , die in den

stofflichen Dingen als ihr Halt und ihr Leben wohnt, anwendbar sein; mit einem

farblosen Worte können wir sie auch als die vorstofflichen oder überstofflichen

A n f ä n g e

(

άρχαί)

bezeichnen. —

Daß diese vorstofflichen Anfänge ein gegliedertes Reich, ein Miteinander

bilden, wurde in der Naturphilosophie berührt. Dieses Miteinander ist aber keine

echte Gezweiung, es bleibt eine bloße Entsprechung (Analogie) zur geistigen

Welt.

In der Naturphilosophie wurde das Wesen des Stoffes als Verräumlichung

dargestellt

2

und auch der Nachweis geführt, daß Raum nur durch Raumloses

möglich ist

3

.

Wenn der Stoff das sich Verräumlichende ist, ist er n i c h t

m e h r d e r I n b e g r i f f v o n P o t e n t i a l i t ä t , wie Pla-

ton, Aristoteles und ihre Schulen wollten, sondern das Gegenteil:

ein Inbegriff von Aktualität. Diese Aktualität ist sogar ein we-

sentlicher, ein denkwürdiger Zug an allem stofflichen Sein. Alles

stoffliche Sein ist hart an die Grenze seiner Möglichkeiten aktuali-

siert, ihre Möglichkeiten sind stets fast ausgegeben und erschöpft

(ein Stein, der am Boden liegt, kann kaum etwas anderes sein!), sie

ist relativ vollwirklich, in sich gesättigt; und nur dadurch ist die

Stofflichkeit eine wirkliche Welt und ein in bestimmten Qualitä-

ten und Räumlichkeiten Seiendes, nicht ein Unwirkliches

(μή όν,

wie nach Platon und Aristoteles). Stetige Aktualität, A n n ä h e -

r u n g a n g e s ä t t i g t e V o l l w i r k l i c h k e i t i s t d a s

W a h r z e i c h e n d e r s t o f f l i c h e n W e l t . Wer emp-

fand nicht schon tröstlich das Befriedigte, Gesättigte, Sichere der

Natur. Die stoffliche Welt hat ein geringeres Ziel, aber das erreicht

sie dafür sicherer als der Geist. Sie trifft, was / sie will, und beru-

1

Die Nachweise hierfür siehe bei Gotthilf Heinrich von Schubert: Die

Geschichte der menschlichen Seele, 5. Aufl., Stuttgart 1877, S. 40 f.

2

Siehe oben S. 320 ff.

3

Siehe oben S. 361 ff.