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der Menschheit ist ihm ein Kampf der Geschlechter um den Vorrang. Er unter-

scheidet die Zeitalter der wahllosen Vermischung aller (Promiskuität), des

Mutterrechtes und des Vaterrechtes. Das Mutterrecht hat wieder zwei Stufen:

das hetärische Mutterrecht, in welchem zwar schon die Abstammung der Men-

schen nach der Mutter gezählt werde, aber noch keine feste Familie bestünde;

und das eheliche Mutterrecht, in welchem mütterliches Abstammungs- und

Erbrecht herrsche. — Darnach wäre die ganze Menschheit aus einem tierischen

Urzustande hervorgegangen, in welchem nicht nur geschlechtliche Allvermischung,

sondern auch Urkommunismus geherrscht habe (weshalb die Darwinisten, ebenso

wie Marx, Engels, Bebel diese Lehre später aufgegriffen haben). Dann sei als

allgemeiner Durchgangszustand der Menschheit das Mutterrecht gefolgt, in

welchem sich erst langsam feste eheliche Verhältnisse ausbildeten, bis schließlich

das Vaterrecht entstanden sei. — Bachofen sieht die Frau als „die Erzieherin

des Menschengeschlechtes“ an. Die Frau sei jene Triebkraft, die von der Sumpf-

zeugung zum ehelichen Mutterrecht hingedrängt und dadurch einen entscheiden-

den Fortschritt gebracht habe.

Andrerseits sieht Bachofen diese Entwicklung rückverbunden mit jeweils

entsprechenden religiösen Zuständen (von denen natürlich Marx, Engels, Bebel

und die naturalistische Völkerkunde nichts wissen wollten). Die religiöse Entwick-

lung, die für alle bürgerlichen Verhältnisse vorbildlich ist, ging nach Bachofen

von einer chthonischen zur lunarischen und solarischen (manischen) Religion.

Die Entsprechungen zeigt folgende Tafel an:

chthonische: Religion der Erde (Erdgottheiten) — S t o f f — P r o m i s k u i t ä t

(später: hetärisches Mutterrecht).

lunarische: Religion des Mondes — S e e l e — M u t t e r r e c h t ,

solarische: Religion der Sonne — G e i s t — V a t e r r e c h t .

Wie ersichtlich, liegt dem Ganzen der Grundsatz des F o r t s c h r i t t e s ,

der Entwicklung in der Geschichte zugrunde — unverfälschte Aufklärung.

Bewunderungswürdig ist es, wie Bachofen aus geringstem Forschungsstoffe

seine scharfsinnige Lehre begrifflich zu begründen vermochte. Aber seine Auf-

stellungen können heute als hinfällig betrachtet werden. Weder sind alle Völker

durch das Mutterrecht hindurchgegangen

1

, noch auch kann eine geschlechtliche

Allvermischung oder ein kommunistischer Urzustand irgendwo als Ausgangs-

punkt der Entwicklung erwiesen werden; noch auch ist endlich die chthonische

Religiosität als die Urform aller Religion zu beweisen. — Ein Mangel der

Bachofenschen Lehrbegriffe liegt vor allem auch darin: daß er die H e i r a t s -

u n d S i p p e n o r d n u n g e n z u r G r u n d l a g e d e r G e s e l l s c h a f t

u n d G e s c h i c h t e m a c h t e . Der Gang der Geschichte kann weder aus den

Heiratsordnungen erklärt, noch diesen die Religionsgeschichte nach dem Gegen-

satze: Mann: Frau = Geist: Stoff = Erde: Sonne zugeordnet werden.

In der Geschichtsphilosophie hat Bachofen keine Wirkungen ausgeübt. Umso

mehr in der naturalistischen Völkerkunde und im marxistischen Sozialismus.

Es ist eine Nachwirkung Bachofens, daß die Bedeutung der Heiratsordnungen

bis heute in der Völkerkunde überschätzt wird.

1

Wozu das in meinem Buch: Gesellschaftslehre (1914), 3. Aufl., Leipzig 1930,

S. 29 ff. [4. Aufl., Graz 1969, S. 40 ff.], angegebene Schrifttum zu vergleichen ist.