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Wieder stoßen wir auf die Zentrallehre des Christentums: Dem
Vermögen nach hat jeder Mensch an der Gottheit denselben Anteil;
jeder Mensch tritt in das Verhältnis des Gottmenschen, in welchem
er der Anlage nach stets ist und war. Darum ist es christliche Lehre
und in Sonderheit im Sinn des Johannesevangeliums, wenn Meister
Eckehart immer wieder sagt, alles hänge daran, daß Gott in der
eigenen Seele geboren werde und nicht nur in Christus: „Was hülfe
es mir, wenn ich einen Bruder hätte, der da wäre ein reicher Mann,
und ich ein armer, er weise und ich ein Tor?“
1
.
Daraus ziehen wir zuletzt die kühn erscheinende, aber unabweis-
bare Folgerung: der präexistente Logos-Christus ist der erste
Mensch; er ist der Mensch als Ideenführer oder die präexistente /
Menschheit, der U r m e n s c h . Wiederum werden wir hier auf
die Entsprechung einer uralten mystischen Lehre des Heidentums
im Christentum geführt, der Lehre vom Urmenschen oder makro-
kosmischen Menschen.
Der wiedergeborene Mensch kehrt in den Quellpunkt zurück,
wo er sich als Ideenführer findet:
„Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich
Gottes nicht sehen.“ „Wir reden, was wir wissen und zeugen, was wir gesehen
haben . . .“
2
. „Bruder Eckehart, wann gingt Ihr aus dem Hause? — Ebenda war
ich darin“
3
. „Und niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel hernieder
gekommen ist.. .“
4
.
E. Z u k u n f t
Entgegen der Behauptung, die Mystik kenne nichts Geschicht-
liches, da sie nur im Übersinnlichen, Ansichseienden lebe, werden
wir im Johannesevangelium einen Schritt weiter geführt: vom An-
sichseienden auf das Geschichtliche. Das ist darum möglich und die
Beachtung geschichtlicher Tatsachen mit echter Mystik darum ver-
einbar, weil Geschichte eben darin besteht, daß in ihr ideale trans-
zendente Mächte wirken und mit der irdischen Natur des Menschen
sich verbinden — oder auf dramatische Weise mit ihr Zusammen-
stoßen.
1
Franz Pfeiffer: Meister Eckhart, Leipzig 1857, S. 64, Zeile 27 f.
Johannes 3, 11.
3
Franz Pfeiffer: Meister Eckhart, Leipzig 1857, S. 181, Zeile 6 f.
4
Johannes 3, 13.