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Wie alles Menschliche, so ist auch das Schöne der Unvollkommen-

heit unterworfen. Dies kann aus der Schwäche der Eingebung, sei es

nun aus Nach- und Anempfundenem, aus dem Epigonentum, aus

Seichtheit, Trockenheit oder Willkürlichkeit, Phantastik, aus Mache,

Manier oder Gesuchtheit, aus Überladung und Formalismus, aus dem

Sonderlingshaften, dem Rührseligen stammen; aber auch aus dem

Naturahsmus (Bd 19, 335 ff.). Bei letzterem müßte allerdings diffe-

renziert werden; nicht jeder „Naturalismus“ ist mindere Kunst.

Auch im Naturalismus ist oft und oft das Hintergründige zu er-

blicken, wenn man nur will. Spann wirft dem Naturahsmus vor, er

beschränke sich auf Äußerlichkeiten und Feinheiten und schöpfe

nicht aus dem geistigen Mitleben mit dem Gegenstand, also nicht aus

der Tiefe der Eingebung. Dem kann man entgegenhalten, daß sich

Naturalismus sehr wohl mit der Verwurzelung in der hohen Ein-

gebungsgrundlage vereinbaren läßt. Am ehesten sicherlich in der

Literatur. So hat Gerhard Hauptmann z. B. in dem Schauspiel „Und

Pippa tanzt“ und auch in anderen Werken die Grenzen des bloßen

Naturalismus weit hinter sich gelassen. Nicht vordergründig natura-

listisch, impressionistisch oder expressionistisch sind wohl auch die

Werke Rodins, Manets, Hans von Marées, Gustav Klimts und van

Goghs. In diesem Zusammenhang ist auch der Expressionist Egon

Schiele zu nennen. Auch der Expressionismus kann der Absicht nach

religiöse Kunst sein. Sicher ist es aber richtig, daß etwa das Werk

Jean-Paul Sartres dem künstlerischen Satanismus zuzuordnen ist.

Eine weitere mögliche Unvollkommenheit liegt in der Gestaltung.

Sie ist dann gegeben, wenn die Unbeholfenheit, Halbgestaltigkeit

oder Ungestaltetheit im Werke — welcher Kunstart auch immer —

aufscheint. Das Häßliche ist oft mehr als eine bloße Störung der

äußerlichen Maßverhältnisse, vielmehr kann es sehr wohl die tiefsten

Wurzeln in der Eingebungsgrundlage haben. Auch die Trennung von

Gestalt und Gehalt entweder auf der geistigen oder der naturhaften

Ebene ist eine Unvollkommenheitsform. Sei es, daß die Gestalt dem

Gehalt nicht adäquat ist oder umgekehrt. Wenn der Gehalt wichtiger

ist als die Gestalt oder die Gestalt einen dürftigen Gehalt hat, ist ein

einheitliches Kunstwerk nicht möglich. Ein „Bild ohne Gnade“

(Bd 19, 335) entsteht dann, wenn die Überwelt in dem Werk nicht

mehr durchschimmert. Das Werk läßt den Betrachter kalt, statt ihn