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Die Bedeutung des Ständischen Gedankens
für die Gegenwart
Vortrag, gehalten am 9. Juni 1933 vor der
„Confederazione Nazionale Fascista del Commercio“ in Rom
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Hochansehnliche Versammlung! Als der politische Genius Mus-
solinis den Faschismus schuf, war, wie er im Aufsatze „Faschismus“
der italienischen Enzyklopädie selbst erzählt, seine erste Aufgabe
die Tat und nichts als die Tat. Der Faschismus mußte (ähnlich wie
der Nationalsozialismus) Menschen sammeln, welche aus der un-
mittelbaren politischen Notwendigkeit heraus zu handeln wußten
und von des Gedankens Blässe nicht angekränkelt waren, lebendige
Menschen, Tatmenschen und Kriegernaturen dazu!
Aber dennoch ist es bezeichnend, daß dieser Faschismus die
entscheidenden Kämpfe von Anbeginn gegen zwei durchaus g e i -
s t i g bestimmte Gegner zu führen hatte: gegen die liberalen Ideen
von 1789 und gegen die marxistischen Ideen von 1917.
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Zuerst erschienen in: Lo Stato, fasc. VII, Roma 1933, p. 486 ff. in italienischer
Sprache; deutsch in: Ständisches Leben, Jg 3, Berlin, Wien 1933, S. 353 ff.
Ein Vergleich mit Österreich war schon damals nicht möglich und ist es heute
noch weniger. Am 1. Mai 1934 ließ man in Wien die Stände „huldigen“, die
es noch nicht gab. Man machte aus dem Ständetum einen unheimlichen Fast-
nachtscherz. Gegen die geistigen Anleihen an meiner Lehre, die in der öster-
reichischen Verfassung gemacht wurden, erhebe ich feierlich Einspruch. Man
bedachte nicht, daß man G e d a n k e n v e r s t e h e n m ü s s e , u m
s i e e r f o l g r e i c h z u e n t l e h n e n . Die Verfassung vom 1. Mai 1934
ist eine Mischung der Grundsätze von 1789 und in der Luft schwebender stän-
discher Einrichtungen. Die Gefährdung des ständischen Gedankens, die darin
liegt, muß ich tief beklagen.
W i e n , im Mai 1934
Othmar Spann