[4/5]
7
Hier müssen wir nun eine kritische Bemerkung einschalten. Weil
nämlich in Wahrheit die einzelnen Menschen nicht geistig autark
sind und weil sie überhaupt in Wahrheit ohne Sachverständigkeit
keine bestimmte Meinung über Staatsfragen — z. B. Verwaltung,
Staatsorganisation, bürgerliches Recht, Freihandel oder Schutzzoll —
haben können, deswegen müssen sich Hilfsgruppen bilden: die po-
litischen Parteien!
Was sind also die politischen Parteien des liberal-demokratischen
Staates? Sie sind aus dem Stegreif gebildete, sind w i l d g e w a c h -
s e n e F ü h r e r g r u p p e n , welche den Bürgern in Wahrheit erst
sagen müssen, womit sie ihre „Beauftragten“, die parlamentarischen
Abgeordneten, zu beauftragen haben. Im liberal-demokratischen
Staate sind daher die politischen Parteien unentbehrlich zur Bildung
des Staatswillens. Aber sie beruhen auf einer Unwahrheit, sie beru-
hen auf der falschen Annahme, daß alle Einzelnen, daß „das Volk“
einen bestimmten Willen tatsächlich von sich selbst aus habe und
ihn daher den „Abgeordneten“ mitteilen könne. Würde man aber
die Bürger plötzlich überfallen, sie z. B. durch ein Hornzeichen
„Halt“ auf dem Potsdamer Platze in Berlin oder auf einem ent-
sprechenden in Rom zum Stehen bringen, sie dann etwa fragen, ob
sie für Schutzzoll oder Freihandel seien (eine Frage, unter deren
Zeichen eine der letzten Wahlen in England stand), so vermöchten
die meisten, mit Ausnahme weniger Sachverständiger, k e i n e Mei-
nung zu äußern. — Die politischen Parteien unterliegen ferner der
Notwendigkeit gegenseitigen Sich-hinauf-Lizitierens, das heißt einem
Gesetze der g e g e n s e i t i g e n R a d i k a l i s i e r u n g . Auf den
Staatsmann Perikies folgt der Gerber Kleon! Darum führten sie,
wie auch die Geschichte zeigt und nicht minder die Gegenwart,
jedes Staatsleben früher oder später einem Chaos zu. Auf dem
Grunde der Demokratie lauert die Anarchie.
Die Hauptmerkmale des individualistischen Staates sind demnach:
—
die Zentralisierung (weil begriffsgemäß nur Eine Herrscher-
gewalt besteht);
—
die mechanische Willensbildung des Staates durch Zählen der
Stimmen,
—
die mechanische Gleichheit der Bürger in politischer Hinsicht
und — allerdings im Widerspruche dazu — die Freiheit als politi-
scher Hauptbegriff / und Ausgangspunkt jedes Individualismus;