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derung keine Worte zu verlieren, wenn nicht dennoch der ge-

schichtliche Positivismus zuletzt darauf hinausliefe, daß er die Tat-

sachen und nur die Tatsachen schildern wolle. Dieses Vorhaben ist

sinnlos. Denn die „Tatsachen“ der Geschichte sind alle A u s d r u c k

geistiger Inhalte, sie sind es als G l i e d e r gesellschaftlicher Ganz-

heiten! Wer v e r s t e h t d i e P y r a m i d e n ? Wer die Religion,

Sittlichkeit, Kunst, Staatsordnung, Technik des alten Ägypten ver-

stünde — wer das Gesellschaftsganze und seine Glieder verstünde!

Der positivistische Geschichtsbegriff ist falsch. Die Geschichte

kann nicht sagen, „wie es gewesen ist“, wenn sie die gesellschaftlich-

geistigen Ganzheiten nicht kennt, deren Glied und Ausdruck das Ge-

wesene bildet.

Möge man erkennen, daß die Geschichtsschreibung ohne An-

schluß an die Theorie zugrunde geht. Das Zeitalter des reinen Hi-

storismus, das will sagen des Positivismus ist vorüber.

/

Man sagt auch immer wieder, die Geschichte sei eine K u n s t ,

keine Wissenschaft. Hier haben wir die Auflösung dieses Streites.

Die Wiederherstellung jener großen geistigen Gebilde bedarf aller-

dings mehr als nur zerlegenden und folgernden Denkens. Sie

fordert darüber hinaus ein schöpferisches Tun des Geistes, erfordert

Seelenstärke und hohen Sinn, um den großen Inhalt einer Kultur

in sich aufnehmen zu können.

In dieser hohen Anforderung an Eingebung und tiefstes Ver-

stehen gleicht die echte Geschichtsschreibung der Kunst. A b e r

d e n n o c h i s t s i e n i c h t K u n s t , da sie nicht das Werk

der erzeugenden Phantasie des Menschen ist, sondern Wissen-

schaft, da sie zuletzt auf begriffliche Auseinanderlegung geht, auf

Begriffsbildung, und hierbei überall auf unmittelbarer Wahrheit

beruht (von Quellenkritik, Quellenkenntnis und all dem Rüstzeug

der sogenannten „Hilfswissenschaften“ ganz zu schweigen). Nur

die subjektiven Fähigkeiten des Forschers zur Ausführung dieser

Aufgabe gleichen dort, wo sie auf hoher Stufe stehen, denen des

Künstlers, nämlich Verständnis der menschlichen Natur, Verständ-

nis der großen Sendung des Menschen und seiner höchsten Fragen.

Die Aufgabe selbst ist aber keine künstlerische, sondern eine wissen-

schaftliche.