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und auch nicht vom Kritizismus, der gerade die Möglichkeit eines
Systems verneint.
1.
Die V e r n e i n u n g d e r M ö g l i c h k e i t e i n e r
S y s t e m b i l d u n g
Seit dem Sturze Hegels verneint man ausdrücklich die Möglich-
keit eines geschlossenen philosophischen Begriffsgebäudes und ver-
weist dagegen die Philosophie auf die Einzeluntersuchung, ganz nach
Art der Naturwissenschaft, und zwar namentlich auf die Erkennt-
nistheorie, als auf ein Sondergebiet, das angeblich eigener Unter-
suchung für sich selbst fähig wäre!
Die heutige Meinung ist, daß gerade die ableitend-entwerfenden
Systembildungen in der Geschichte gescheitert seien, und daß sie nur
insofern zer- / streute Wahrheiten in sich enthalten, als sie solche
durch Untersuchungen, die sich auf die Erfahrung gründen, zu fin-
den vermochten. Die auf Erfahrung gestützte Erkenntnis könne
aber niemals geschlossen sein, denn die Erfahrung sei immer un-
fertig; und sie könne am allerwenigsten ableitend, aus reinen Ver-
nunftgründen entwerfend, „apriorisch-konstruktiv“, sein.
Gerade das Gegenteil ist richtig. Nur soweit sich die philosophi-
schen Begriffsgebäude verleiten ließen, an den besonderen Stand des
Wissens der Zeit anzuknüpfen und diesem sich zu verhaften, gerade
soweit reichen notwendig ihre grundsätzlichen Irrtümer. Soweit
aber die letzten Urbegriffe, die letzten Grundlagen der philosophi-
schen Lehrgebäude in Frage kommen, finden wir sie von dem ge-
schichtlichen Wissensstande unabhängig. Weil sie nämlich in ihren
Urbegriffen auf den ewig gleichen, letzten Grundzügen aller Er-
fahrung beruhen, finden wir eine erhabene Übereinstimmung der
Grundfragen ebenso wie der Grundlösungen in allen großen philo-
sophischen Lehrgebäuden. Die Aufgaben sind überall dieselben, die
Grundlösungen sind ebenfalls dieselben; aber darüber hinaus blei-
ben allerdings Widerstreit und Denkaufgaben, bleiben gleichsam
häusliche Zwiste zurück, und diese am meisten unterliegen dem
Wechsel der geschichtlichen Bildungsrichtung wie des geschichtlichen
Wissens.
Ein philosophisches Lehrgebäude besteht keineswegs darin, das
einer bestimmten Zeit eigene Wissen zu einem Gesamtbegriffsge-
bäude zu verbinden. Denn die Philosophie ist nicht der Inbegriff