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auch der französischen Revolution innerlich zu nahe, welche die
Geschichte nicht um Rat fragte, sondern verneinte und die Gebeine
der alten Könige und Führer aus den Grüften warf.
Das unwahre innere Verhältnis zur Geschichte führt zu ihrer
Auffassung als Natur, das wahre zu ihrer Auffassung als Geist. Das
unwahre Verhältnis zur Geschichte stürzt den Menschen in die
Vernichtung des Naturgeschehens, das wahre in die Dauerbarkeit
des Geistes.
Dieses Buch verlangt vom Leser Mut des Geistes.
Der schöpferische, ungebrochene, innerliche Mensch kennt die ur-
tümliche Selbstsetzungs- und Eingebungskraft des Geistes. Er glaubt
an den Geist und glaubt an die Geschichte als Geist. Der unschöpfe-
rische, zerrissene, äußerliche Mensch hält alles für entlehnt, erlernt,
beeinflußt. Er nimmt die äußeren Vorbedingungen für das Wesen
und glaubt mehr und mehr an die Geschichte als Natur. Alle natu-
ralistisch geklitterten Geschichtsphilosophien entsprechen diesem
geschwächten, veräußerlichten / Zustande eines mit sich selbst zer-
worfenen Jahrhunderts, in welchem der Geist von seiner verbor-
genen Fülle, dem Weltüberhöhenden des Denkens, dem Ungeteilten
seines Grundes sich abwendet und schließlich an sich selbst irre wird.
Auch der sogenannte „Historismus“ fällt darunter, der durch seine
positivistische und rationalistische Haltung schließlich vom Natura-
lismus überwältigt wurde. Da der Naturalismus die tiefere Quelle
der Wirklichkeit nicht kennt, ist er abstrakt-allgemein gerichtet,
das heißt aber — wirklichkeitsfremd. Die Wirklichkeit von der
Quelle her, in ihrer Tiefe, ist nur jener Auffassung zugänglich,
welche die Geschichte als Geist erfaßt und vom Geiste aus auch die
Natur versteht.
Der Mensch empfindet zugleich Grauen und Hingabe beim An-
blicke der Geschichte. Grauen, denn sie ist der Moloch, der alles
verzehrt, der Abgrund, der alles verschlingt. Hingabe, denn sie zieht
ihn zugleich mit unwiderstehlicher Gewalt an. Hier findet er sein
Feld, hier seine Tätigkeit, er ahnt, daß das Übergeschichtliche nur
im Geschichtlichen sich darstellt. Und eben denselben Zwiespalt zeigt
ihm der Begriff des Lebens selbst. Das Leben ist nicht wert, dauernd
gelebt zu werden. Darum ist der Tod eine innere Notwendigkeit.
Aber diese Vergänglichkeit vernichtet nicht, wenn Schöpfertum hin-