I. Geschichte als Gegenwart des Vergangenen
Um die begriffliche Untersuchung dessen, was Geschichte sei, am
sichersten vorzubereiten, haben wir uns nur auf das letzte Erlebnis
zu besinnen, das aller Geschichtsbetrachtung zugrunde liegt. Dieses
Erlebnis ist jedem Menschen geläufig und besteht darin, das Ver-
gangene nicht als ein schlechthin Entschwundenes, sondern als ein
noch Gegenwärtiges zu verstehen.
Es ist der größte Irrtum, zu meinen, daß die Vergangenheit nicht
mehr wäre. Die Vergangenheit besteht noch; und daß sie das tut,
darauf allein beruht Geschichte.
Wenn wir von der Gegenwart des Vergangenen sprechen, so gilt
das freilich in einem anderen Sinne als für die jeweilige reine Gegen-
wart selbst. Die Gegenwart ist das jetzt Erlebte, die Vergangenheit
ist das in diesem Jetzt nochmals und noch immer Mit-Erlebte, Mit-
Gegenwärtige, Erinnerte, Erhaltene; so zwar, daß das Vergangene
die Gegenwart mitbaut und mitgestaltet, sei es in tätiger oder
sogar in hemmender Weise. (Bei all dem sei Geschichte nur geistig
aufgefaßt. Die Naturgeschichte lassen wir vorläufig beiseite.)
Das Lebendigsein des Vergangenen im Gegenwärtigen kann sich
jeder am einfachsten an seiner eigenen Geschichte klarmachen. Jeder
hat von seiner Mutter sprechen, von seinem Lehrer lesen gelernt,
jedem wurden in seinem Bildungsgange persönliche, religiöse, künst-
lerische Erlebnisse vermittelt. All das ist in bestimmtem Sinne in ihm
noch lebendig. Denn er spricht mit / der damals erlernten Sprache,
er erkennt in der Wissenschaft, gestaltet in der Kunst, erlebt in der
Religion mit den ihm vertrauten Erkenntnissen und Erlebnissen.
Das heißt nämlich, daß jene damaligen Erlebnisse des Sprechens,
Wissens, Gestaltens, Glaubens, die beim „Erlernen“ in ihm erweckt
wurden, heute noch immer da sind, noch bestehen, oder anders
gesagt, daß sie unverlorene Bestandteile seines Innern, daß sie sein
geistiger Besitz sind, daß sie in der Wirklichkeit seines Könnens,
Erlebens und Tuns gegenwärtig und dabei sind.