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Auf den übersinnlichen, daher schöpferischen Grund, aus welchem

der menschliche Geist immer wieder neu geboren wird, verweist

Eckehart den Menschen: „Wisset, meine Seele ist so jung, wie da ich

geschaffen ward, ja und noch viel jünger. Und wisset, ich würde es

verschmähen, wenn sie morgen nicht noch jünger denn heute wäre“

1

.

Wieso „noch jünger“? Weil der Mensch sich immer tiefer in den

übersinnlichen Grund seines Wesens versenken soll.

Hier ist nun der Punkt, wo sich von der S i t t e n l e h r e

h e r dasselbe ergibt, was wir oben als aus dem mystischen Bereich

des Lebens folgend, insbesondere aus der Kategorie der Gottver-

wandtschaft folgend, erkannten: der unendliche W e r t d e s

M e n s c h e n .

Und hieran schließt sich im besonderen die Forderung der Unter-

lassung der S ü n d e g e g e n d e n G e i s t . Wird nämlich allein

das tätige Leben gepflegt und nicht auch das schauende, so entsteht

ein Versäumnis:

„Alle Sünden werden vergeben den Menschenkindern ... Wer

aber den heiligen Geist lästert, der hat keine Vergebung ewig-

lich .. .“

2

.

Die Sünde gegen den Geist besteht in nichts anderem als darin,

sich dem Geistigen, wenn es uns entgegentritt, zu versagen, also seine

eigene innere Ausbildung zu versäumen: Wer die W a h r h e i t

n i c h t e r k e n n e n w i l l , v e r s ä u m t s e i n e e i g e n e i n -

n e r e E n t w i c k l u n g . Er zieht sich selbst einen Mangel / zu.

Dieser Mangel besteht, ist unabänderliche Tatsache. Was versäumt ist,

ist versäumt, was geschah, wird nimmermehr ungeschehen. Wer nicht

hat, dem wird genommen.

Die Erkenntnis von Wert und Würde des Menschen hängt gleich-

falls daran, daß dem tätigen Leben ein schauendes zugrundeliege.

Denn nur im Schauen wird ein Funke mystischen Erlebens erhascht

und der unendliche Wert des menschlichen Geistes erkannt. „Was

hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme

doch Schaden an seiner Seele?“ Hiermit begründete das Christentum

die Forderung nach dem schauenden Leben auch von der Sittenlehre,

nicht nur von der mystischen Erfahrung her.

1

Franz Pfeiffer: Meister Eckhart, Leipzig 1857, S. 257, Zeile 21—23.

2

Markus 3, 28.