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bestehe. S o b a l d A u t o r i t ä t u n d G e w a l t , i n n e r e s
R e c h t u n d ä u ß e r e M a c h t a u s e i n a n d e r f a l l e n , ist
der Bestand des betroffenen Umkreises der Gesellschaft gefährdet.
Diese Auffassung entspricht auch ungezwungen dem des Äußer-
lichen, Mechanischen in der Macht. S c h o n z u m H a n d e l n
g e h ö r t M a c h t . Dies Äußere der Macht kommt zu Denken und
Handeln nicht erst nachträglich hinzu, es ist kein mechanischer An-
hang. Sondern indem ein Geistiges sich im H a n d e l n d a r -
s t e l l t — die Gebärde, die Sprechbewegung der Zunge — wird
schon Macht aufgewendet. In der Macht des Handelns vollendet sich
der Geist.
In jeder geschichtlichen Gesellschaft muß die innere Wertschichtung durch eine
äußere Herrschaft (die sich auf innere gründet) ergänzt werden.
Die Gesamtorganisation der Gesellschaft, der Staat, ist es vor allem, welcher
nach einem jeweils herrschenden Wertungsgrundsatz eine bestimmte Wert- /
Schichtung durchführt und organisatorisch befestigt. Es ist der Irrtum der liberalen
Auffassung, als könne eine Gesellschaft ohne organisatorisch-herrschaftsmäßige
Befestigung eines Wertungssystems auskommen! Im Mittelalter wurde dem
Priesterstande, dem Krieger- und Ritterstande, dem Bürger-, Handwerker-, Ge-
sellen- und Bauernstande je ein gewisser Rang nach der Wertschätzung zuge-
wiesen, wobei verhältnismäßig wenig im Flusse und dem freien Austrag der
Beteiligten anheimgestellt blieb. In der liberalen und demokratischen Zeit dagegen
sollte nach dem Grundsatz der Gleichheit die Verschiedenheit der Wertung mög-
lichst ausgeschaltet werden. Man wollte das Staatsleben möglichst mechanisch ge-
stalten, es auf bloße Sicherheit und Rechtsgleichheit einstellen und bemühte sich,
die Wertungen freizugeben, das heißt in das „freie Geistesleben“ abzuschieben.
Wie wenig dies aber als gegen die Natur der Dinge verstoßend möglich war,
zeigt ein Blick auf die Wirklichkeit. Zuerst mußte notgedrungen eine Wertung
gegenüber den negativen Elementen eintreten. Die Verbrecher, die sittlich Min-
derwertigen, die Armen-Unterstützten, die politisch Gefährlichen mußten ab-
wehrend behandelt, das heißt unterdrückt werden; die wirtschaftlich Führenden
(die Unternehmer), die politisch Führenden (die Politiker, Staatsmänner), auch
die militärisch Führenden mußten durch entsprechende positive Wertung heraus-
gehoben werden aus der Menge der übrigen; die Bürger mit einer gewissen
Schulbildung und Fachbildung wurden mit Berechtigungen versehen (z. B. für
den Staatsdienst); die verschiedenen Altersstufen mußten für Wahlrecht und
Wählbarkeit, Geschäftsfähigkeit, Pflegschaft usw. verschieden gewertet werden —
auf diese und auf tausend andere Weisen wurden doch wieder Wertschichten ge-
schaffen, welche freilich nach Möglichkeit versuchten, einer Stellungnahme im
Kampfe der Geister auszuweichen, aber nur nach Möglichkeit. Ein Mindestmaß
von (organisatorischer) Festlegung der Wertschätzung, staatlicher Gutheißung,
Begünstigung oder Unterdrückung der Werte mußte aufgerichtet werden! Die
liberal-demokratische Gesellschaft ist jene, die sich mit einem Mindestmaß an
Wertschätzung begnügt, das nach dem Grundsatze der mechanischen Natur des
Staatslebens gebildet und der individualistisch-demokratischen Wertskala angepaßt
ist. Die Gesellschaften anderer Zeitabschnitte nehmen wieder andere Wertschich-